Zukunft von Notre-Dame weiterhin offen
24. Juni 2019Einen weißen Schutzhelm trägt der Erzbischof von Paris auf dem Kopf, als er am 16. Juni 2019 zur Predigt anhebt. Auch Messdiener und Gemeinde tragen Sicherheitshelme. Baustrahler tauchen den Altar in gleißendes Licht. In der Fernsehübertragung ist zu sehen, dass über dem Altarraum der Himmel durchscheint.
Weiterhin Einsturzgefahr in Notre-Dame
In dieser Kulisse leitete der oberste Geistliche von Paris, Michel Aupetit, nun seine erste Messe in der Kathedrale Notre-Dame, auf den Tag genau zwei Monate nachdem hier ein Großbrand gewütet und Dach samt Spitzturm zerstört hatte.
Mit einem etwas trotzig anmutendem "Notre-Dame ist quicklebendig", zitierte die Nachrichtenagentur AFP den Domdekan Patrick Chauvet vor der Messe. Ganz anders klingt Barbara Schock-Werner, frühere Kölner Dombaumeisterin und nun Koordinatorin der deutschen Hilfe beim Wiederaufbau von Notre-Dame. Wenige Tage vor der Messe konnte sie die Kirche ein zweites Mal betreten. Experten halten die für die Öffentlichkeit gesperrte Kirche weiterhin für einsturzgefährdet, so auch Schock-Werner selbst, die im Kölner Domradio ihre Eindrücke des Besuchs schilderte. Zwar sähe es besser aus als bei ihrem ersten Besuch, doch weiterhin lägen im Mittelschiff Haufen verkohlter Balken und heruntergebrochene Gewölbesteine herum. Dem vom Löschwasser durchnässten Chorgestühl drohe Schimmel. Wie der gesamte Innenraum, sei auch die Orgel völlig verrußt.
Warnung vor hoher Bleikonzentration
Zentrales Hindernis der Aufräumarbeiten aber sind Tonnen geschmolzenen Bleis aus dem Dach, die nun den Innenraum kontaminieren. Wegen der Bleivergiftungsgefahr versuche man den Schutt in der Kathedrale zeitraubend mit ferngesteuerten kleinen Baggern zu bergen, berichtet Schock-Werner. Doch erst wenn die Kirche vollständig gereinigt und gesichert ist, kann der eigentliche Wiederaufbau beginnen.
Der soll in fünf Jahren abgeschlossen sein. Das hatte Präsident Emmanuel Macron im April den Franzosen versprochen. Dieser ehrgeizige Zeitplan sitzt nun dem Fünf-Sterne-General Jean-Louis Georgelin im Nacken. Der ehemalige Generalstabschef im Elysée-Palast ist seit April "Monsieur Reconstruction", Sonderbeauftragter für den Wiederaufbau von Notre-Dame. Macron hatte "erfinderischen Wiederaufbau", eine Allianz aus Tradition und Moderne und "respektvollen Wagemut" angemahnt. Diese Slogans befeuern nun den nationalen Architektenwettbewerb, den die Regierung schon im April ausgelobt hatte.
Das letzte Wort hat die Regierung
Zu einer großen "Debatte und Konsultation" über den Wiederaufbau hatte Kulturminister Franck Riester die Franzosen im Mai eingeladen, zugleich aber auch klar gestellt, dass im Anschluss "der Staat" über das zukünftige Aussehen der Kathedrale entscheide und damit namentlich die Regierung von Premier Edouard Philippe. Wann genau die Entscheidung getroffen wird, ist noch nicht klar.
Laut einer im April vom Meinungsforschungsinstitut YouGov veröffentlichten Online-Umfrage sprachen sich 54 Prozent der befragten Franzosen für eine Rekonstruktion aus. Als ermüdet von all dem "enormen Unsinn" beim Thema Wiederaufbau, bezeichnete sich unterdessen Chefarchitekt Philippe Villeneuve. Im Interview mit "Le Figaro" verweist er auf die Vorgaben der Denkmalpflege-Charta von Venedig aus dem Jahr 1964, die Frankreich einhalten müsse. Kurzum, so Villeneuve: "Die Spitze muss identisch nachgebaut werden".
Negativbeispiel Kölner Dom?
Denn der beim Brand zerstörte Spitzturm, den Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert entworfen hatte, habe sich "zeitlos "in die Kathedrale eingefügt, diese Silhouette gelte es nun zu rekonstruieren, so Villeneuve. Wie man es nicht machen solle, hat er dabei auch klar vor Augen und verweist auf den Vierungsturm des Kölner Doms: "Das ist eine Warze der 1950er Jahre auf einem historischen Gebäude", sagte der Architekt. Mit einem Team von 150 Mitarbeitern ist Villeneuve nun beschäftigt, derlei zu verhindern. Ein Ende des sich immer klarer abzeichnenden Konflikts zwischen Wagemut und Denkmal-Demut beim Wiederaufbau der Kathedrale ist dabei nicht absehbar.
Verwässerter Fünfjahresplan
Vor insbesondere zeitlich übertriebenen Erwartungen warnt unterdessen die ehemalige Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner: "Selbst wenn das Dach vielleicht in fünf Jahren drauf ist, wird man noch lange an und in dieser Kirche arbeiten müssen." Die "große Eile" kritisierte auch der französische Senat, als er Ende Mai über das zuvor von der Nationalversammlung verabschiedete Gesetz zur "Erhaltung und Restaurierung" von Notre-Dame beriet. So wurde der Regierung schließlich untersagt, um Zeit sparen den Denkmalschutz punktuell umgehen zu können. Mehr noch verlangt der Senat, dem "letzten visuellen Zustand" treu zu bleiben. Das betrifft auch den Vierungsturm, den einst Viollet-le-Duc nachträglich errichten ließ. Über den derart geänderten Textentwurf will die Nationalversammlung am 26. Juni erneut entscheiden. Damit steht für Frankreichs Politik eine nächste Runde im Streit Alt versus Neu beim Wiederaufbau von Notre-Dame ins Haus.