Yunus: Hasina hat Bangladeschs Institutionen "zerstört"
14. September 2024Seit knapp fünf Wochen steht er an der Spitze der Übergangsregierung von Bangladesch: der Friedensnobelpreisträger und Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus. Er folgt auf die 15 Jahre lang regierende Premierministerin Sheikh Hasina, die nach wochenlangen Protesten von ihrem Amt zurücktrat und nach Indien floh. Im Exklusiv-Interview mit der DW spricht Yunus über die Herausforderungen für die Zukunft.
"Man weiß nicht, wo man anfangen soll"
Die ehemalige Premierministerin Hasina habe "fast alle Institutionen zerstört", sagte der 84-Jährige im Gespräch mit der DW. "Man weiß nicht, wo wir anfangen sollen, weil wir alles auf eine ganz andere Weise neu beginnen müssen." Die von ihm geführte Übergangsregierung wolle in Bangladesch "Bürger- und Menschenrechte, Demokratie sowie alle anderen Grundlagen einer guten Regierungsführung" einführen.
Auch deutete er eine Überarbeitung der Verfassung an. "Wir sollten uns auf die wichtigsten Fragen der Verfassung konzentrieren und einen Konsens finden. Ohne einen solchen können wir nichts tun, denn unsere Stärke beruht auf dem Konsens. Wenn wir ihn herstellen können, dann tun wir das."
Auf einen genauen Zeitraum, in dem die nächsten Wahlen abgehalten werden sollen, will Yunus sich nicht festlegen. Allerdings sollten sie "so bald wie möglich" stattfinden. "Das ist unsere Aufgabe." Die Regierung strebe faire Wahlen an und werde die Macht an die dann neu gewählte Regierung übergeben. "Das sollte möglichst bald geschehen. Aber im Moment können wir kein Datum nennen."
Wirtschaftliche Probleme
Yunus beschuldigt zudem Hasinas Regierung der Korruption. Diese habe die Wirtschaft des Landes zerstört. Öffentliche Gelder seien abgezweigt und über Regierungskanäle auf andere Bankkonten überwiesen worden. "Verträge wurden nicht zum Wohle der Bevölkerung, sondern bestimmter Familien oder Familienmitglieder unterzeichnet. Das passiert, wenn eine Regierung in die falsche Richtung geht."
Bangladeschs Wirtschaft mit einem Volumen von 450-Milliarden-Dollar (412 Milliarden Euro) hat seit der COVID-19-Pandemie mit erheblichen Herausforderungen zu kämpfen. Eine der größten besteht darin, genügend gut bezahlte Arbeitsplätze für die große Zahl junger Menschen zu schaffen. Dies ist umso schwieriger, als der Krieg Russlands gegen die Ukraine die Kosten für Kraftstoff- und Lebensmittelimporte drastisch in die Höhe steigen und die Devisenreserven des südasiatischen Landes schrumpfen ließ.
So sah sich die Regierung in Dhaka im vergangenen Jahr gezwungen, den IWF um finanzielle Unterstützung in Form eines 4,7 Milliarden Dollar schweren Rettungspakets zu bitten. Derzeit ist die Übergangsregierung von Yunus im Gespräch mit internationalen Kreditgebern. Diese bittet sie um Finanzhilfen in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar (4,53 Milliarden Euro), um die schwindenden Devisenreserven zu stabilisieren.
Beziehungen zu Indien
Mit Blick auf Indien, das zur Regierung Hasina enge Beziehungen unterhielt, sagt Yunus, Bangladesch müsse beste Beziehungen zum Nachbarland haben, aus eigenem Interesse wie auch aufgrund der Gemeinsamkeiten beider Länder. "Wir teilen die Geschichte des jeweils anderen. Wir haben also keine andere Möglichkeit." Es gebe gemeinsame Interessen wie den Grenzverkehr und die gemeinsame Nutzung von Flusswasser. Seine Regierung werde mit Neu-Delhi zusammenarbeiten, um diese Probleme zu lösen. "Wir müssen zusammenarbeiten. Es gibt Wege, diese Probleme zu lösen."
Derzeit werden die Beziehungen von den jüngsten Ereignissen überschattet. Ex-Premierministerin Sheikh Hasina war im Zuge der Proteste nach Indien geflohen. Zu ihrem Aufenthaltsort machte die dortige Regierung bislang keine Angaben. Yunus' Übergangsregierung hat Hasinas Diplomatenpass für ungültig erklärt. Immer mehr Menschen im Land fordern ihre Auslieferung, darunter auch die obersten Staatsanwälte. Ehemalige Diplomaten erklärten der DW gegenüber jedoch, sie gingen nicht davon aus, dass Indien diesem Druck nachgeben werde.
"Wir heißen die Rohingya willkommen"
Auch ging Yunus auf die Politik Dhakas gegenüber den Rohingya-Flüchtlingen ein. "Die Rohingya kommen zu uns, während die Unruhen im Rakhine-Staat beginnen", sagte er mit Blick auf den bewaffneten Konflikt in Myanmars westlicher, an Bangladesch grenzender Provinz. Nach offiziellen Angaben flohen in den vergangenen Monaten mindestens 18.000 Rohingya nach Bangladesch, um Schutz vor der eskalierenden Gewalt im Rakhine-Staat zu finden.
"Die Rohingya versuchen der Gewalt zu entfliehen und kommen nach Bangladesch. Wir können sie nicht aufhalten, wir können sie nicht zurückdrängen. Damit würden wir sie in den Tod treiben. Das kann ein Land nicht tun. Darum heißen wir die Menschen willkommen und lassen sie einreisen."
Allerdings stelle die Situation für Bangladesch eine Herausforderung dar, erklärte Yunus. "Wir haben bereits nahezu eine Million Rohingyas im Land und wissen nicht, wie sich die Lage entwickeln wird. Zudem kommen nahezu täglich weitere 200 bis 300 Menschen." Diese schnell steigende Zahl stelle für Bangladesch eine zusätzliche Belastung dar. "Das bereitet uns Sorgen. Wir versuchen, die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf das Problem zu lenken. Wir haben im Moment zwar keine Lösung. Aber wir halten die Tür offen."
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.