Yunus: "Die Armut gehört ins Museum"
26. April 2013DW: Professor Yunus, 2011 mussten Sie die von Ihnen gegründete Grameen-Bank auf Drängen der Regierung verlassen. In Ihrem Abschiedsbrief schrieben Sie: "Ich habe mir nie vorgestellt, dass die Mikrokredite zu meiner Lebensaufgabe werden sollten." Was haben Sie erreicht?
Muhammad Yunus: Es ist großartig zu erleben, dass die Menschen das Konzept verstanden haben. Heute hat die Grameen-Bank fast 8,5 Millionen Kreditnehmer. 97 Prozent von ihnen sind Frauen – ihnen gehört die Bank. Sie trägt sich inzwischen selbst und ist zu einer landesweiten Institution geworden.
Wir vergeben Bildungsdarlehen, damit Kinder aus armen Familien Zugang zu höherer Bildung bekommen. Wir haben eine Schwesternschule gegründet, wo junge Mädchen sich zur Krankenschwester ausbilden lassen können. Wir haben Gesundheitssysteme gegründet.
Wie wirkt sich Armut auf die betroffenen Menschen und auf die gesamte Gesellschaft aus?
Armut ist nicht von den Armen verschuldet. Sie wird ihnen durch das von uns geschaffene System aufgezwungen. Ich benutze gerne das Bild eines Bonsais: Wenn man den Samen des größten Baumes in einen kleinen Blumentopf steckt, wird daraus nur ein kleiner Baum wachsen, ein Bonsai. Er sieht niedlich aus. Aber er kann nicht wachsen, weil er nicht ausreichend Platz hat.
Arme Menschen sind Bonsai-Menschen. Die Gesellschaft gibt ihnen nicht genug Raum, um sich zu entfalten wie andere Menschen. Ein Teil dieses fehlenden Raumes ist der Mangel an Geld.
Unser Bankensystem leiht reichen Menschen Geld. Aber arme Menschen erhalten kein Darlehen - mit dem Argument, dass sie es nicht zurückzahlen werden. Die Grameen-Bank hat bewiesen, dass sie jeden Cent zurückzahlen. Die Grameen-Idee hat überall auf der Welt Nachahmer gefunden, und überall werden die Kredite bis auf den letzen Cent zurückgezahlt. Aber das Bankensystem hat sich trotzdem noch nicht verändert. Das ist die Wurzel des Systemfehlers, der für die Armut verantwortlich ist.
Wir müssen armen Menschen Zugang zu Technologie, Bildung, Ausbildung, Finanzen und Gesundheitsvorsorge ermöglichen - gegen Bezahlung. Es geht nicht darum, ihnen alles umsonst zu geben. Wir vergeben keine kostenlosen Kredite. Unsere Kunden müssen alles zurückzahlen. Und während sie das tun, verändern sie ihr Leben. Das ist soziales Unternehmertum. Wenn wir diese Idee weiterdenken, gibt es keinen Grund, warum Menschen in Armut leben sollten.
Die Industrienationen haben sich verpflichtet, 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für staatliche Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen. Einerseits sind wir noch immer weit von dem 0,7-Prozent-Ziel entfernt. Andererseits ist die Armut bislang nicht beseitigt worden, obwohl in den vergangenen Jahrzehnten hunderte Milliarden Dollar an Entwicklungshilfe gezahlt worden sind. Was ist falsch gelaufen?
Entwicklungshilfe ist eine prima Idee, das Konzept ist prima. Aber es hapert bei der Umsetzung. Staatliche Entwicklungszusammenarbeit findet immer zwischen zwei Regierungen statt - die eine zahlt, die andere nimmt das Geld entgegen. Warum öffnen wir das System nicht? Warum stecken wir einen Teil des Geldes nicht in einen Fonds für Sozialunternehmen in den Empfängerländern? Jeder sollte eingeladen sein, seine Ideen einzubringen, um mit Sozialunternehmen die Probleme zu lösen. Je mehr Armutsprobleme gelöst werden können, desto mehr Geld fließt dann in den Fonds zurück. Das wäre eine gute Entwicklungszusammenarbeit.
Außerdem brauchen wir neue Technologien. Wir haben Joint Ventures mit Firmen wie BASF, Otto und Adidas gegründet. Wenn diese Firmen ihre Technologie an die Bedürfnisse der Bürger vor Ort anpassen, dann können die Menschen in die Lage versetzt werden, eigene Lösungsansätze zu entwickeln. Es geht also um die Frage, wie man internationale Hilfe interpretiert. Dabei werden Sozialunternehmen in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
Wo liegen die Grenzen für soziales Unternehmertum in einer globalisierten Wirtschaft?
Der Anteil an der Weltwirtschaft kann bei fünf ebenso wie bei zwanzig Prozent liegen. Je stärker der Sektor der Sozialunternehmen wächst, desto besser lässt sich die Armut bekämpfen. Traditionelle Unternehmen haben dadurch nichts zu befürchten. Sie werden weiter wachsen und Gewinne erwirtschaften - und von sozialen Unternehmen profitieren. Denn wenn Obdachlose, Arme und von Sozialhilfe abhängige Menschen die Armut überwinden, werden sie zu Konsumenten. Und wenn die Nachfrage wächst, können gewinnorientierte Unternehmen ebenso profitieren.
Befürchten Sie nicht, dass Unternehmen wie Adidas und andere Global Player ihr Engagement als Sozialunternehmer zur Imagepflege nutzen? Denn viele dieser Unternehmen stehen in der Kritik, weil sie beispielsweise Gewerkschaften unterdrücken oder Umweltstandards nicht einhalten.
Die Firmen haben in der Tat zum Teil ein schlechtes Image. Aber dort arbeiten viele engagierte Menschen. Wenn man sie für soziales Engagement gewinnen kann, beeinflusst man so ihre Firmenpolitik.
Manche Kritiker halten uns vor, wir seien zu klein, um tatsächlich auf multinationale Unternehmen Einfluss auszuüben. Das stimmt nicht. Wir verändern die Einstellung einzelner Mitarbeiter, und darüber letztendlich dann auch die Firma.
Wenn wir solchen Firmen aus dem Weg gehen würden, um ihnen nicht die Möglichkeit zur Imagepflege zu geben, würde das ein besseres Unternehmen aus ihnen machen? Ich glaube kaum. Es ist richtig und wichtig, Einfluss auf die großen multinationalen Firmen auszuüben und sie mit unseren Belangen zu konfrontieren.
Welche Rolle spielen Sozialunternehmen für das Erreichen der Millenniumsentwicklungsziele bis 2015?
Alle Millenniumsziele - Halbierung der Armut, Zugang zu Bildung und Gesundheit - bieten ideale Chancen für Sozialunternehmen. Die Grameen-Bank hat viele Programme zur Gesundheitsvorsorge ins Leben gerufen, um die Kinder- und Müttersterblichkeit zu verringern. Wir suchen jetzt nach technologischen Lösungen: Wir wollen die Hersteller von Ultraschallgeräten dazu bringen, leichte und einfach zu bedienende Geräte zu entwickeln. Und wir verhandeln derzeit über die Entwicklung einer Software, die als App für Handys heruntergeladen werden kann. So kann man mit dem Mobiltelefon Ultraschallbilder an ein Krankenhaus zur Begutachtung durch einen Arzt oder eine Hebamme schicken. Handys gibt es überall, eine schwangere Frau ins Krankenhaus zu bringen ist oft nicht möglich.
Gleiches gilt für den Bildungssektor. Warum sollte es heutzutage noch Analphabeten geben? Auch Analphabeten haben Handys: Warum entwickelt man dann keine Software, um ihnen Lesen und Schreiben beizubringen? Dafür braucht man weder Schulen noch Lehrer – entscheidend ist der Zugang zur Technologie.
Viele Unternehmen arbeiten schon an entsprechenden Programmen. Bildung für alle ist möglich. Über das Internet kann man reichen und armen Kindern Zugang zu qualitativ gleichwertiger Bildung ermöglichen. Heutzutage stehen den Reichen alle Türen offen, die Armen aber haben keinen Zugang zu Bildung und Gesundheit. Das kann durch Sozialunternehmen verändert werden. Und die Millenniumsziele sind die ideale Grundlage für entsprechende Geschäftsmodelle.
Sie haben einmal gesagt, bis 2030 sollte es Armut nur noch im Museum geben. Sollten Sie angesichts der wachsenden Weltbevölkerung, der globalen Klima- und Energiekrise und des Hungerproblems diese Vision nicht kritisch überprüfen?
Nein, denn es gibt bereits Fortschritte. Wir werden die Armut bis 2015 halbieren. Es gibt konkrete Ergebnisse. Und die Technologie wird entscheidend zur Lösung der Probleme beitragen. Ich gehe noch weiter: Nicht nur die Armut gehört ins Museum, auch die Arbeitslosigkeit. Warum sollte ein Mensch arbeitslos sein? Das ist die Folge eines fehlerhaften Systems, das wir selbst erschaffen haben und das uns bestraft. Arbeitslosigkeit ist die Verschwendung von kreativem Potenzial. Das können wir uns nicht leisten.
Der Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus aus Bangladesch ist der Gründer und ehemalige Geschäftsführer des Mikrofinanz-Kreditinstituts Grameen Bank. 2006 wurde er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Das Interview führte Mirjam Gehrke im Rahmen des European Social Business Forum in Wiesbaden.