Das Jahrzehnt der Rebellen
9. September 2016Weltweite Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, der Mord an Martin Luther King, das blutige Ende des Prager Frühlings, die Schüsse auf den deutschen Studentenführer Rudi Dutschke, der wochenlange Generalstreik in Frankreich - all das und mehr geschieht im turbulenten Jahr 1968. Vor allem in den wohlhabenden westlichen Ländern rebellieren junge Menschen gegen verkrustete Strukturen, fordern Mitbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe. Und suchen nach neuen Werten. Es muss doch mehr geben als Wohlstand und Konsum…
Wohlstand, Proteste und tödliche Schüsse
Den Menschen in Westdeutschland geht es so gut wie nie, die Wirtschaft brummt. Arbeitslose gibt es kaum, und um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken, werden "Gastarbeiter" aus wirtschaftlich schwachen Regionen angeworben, aus Italien, Spanien und Portugal, Jugoslawien und der Türkei. Menschen, die das Gesicht Deutschlands in Zukunft mit prägen werden.
In der Bundesrepublik haben die Unruhen schon 1967 begonnen, mit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der am 2. Juni bei einer Demonstration gegen den persischen Schah von einem Polizisten erschossen wurde. Die Todesumstände bleiben lange ungeklärt, seitdem gibt es immer wieder Demonstrationen, bei denen die Polizei mit Härte reagiert und die Presse (vor allem die Zeitungen des Springer-Konzerns) zu Unrecht vorwiegend die Demonstranten als gewalttätig darstellt.
Der Höhepunkt ist erreicht, als im April 1968 erst der Studentenführer Rudi Dutschke bei einem Attentat schwer verletzt wird und dann Ende Mai die Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD Notstandsgesetze verabschiedet, die den Ordnungskräften im Krisenfall noch mehr Macht einräumen. Aktivisten in der APO, der Außerparlamentarischen Opposition, befürchten einen autoritären Rechtsruck in der Bundesrepublik.
Dem DDR-Regime kommen die Proteste im Westen gerade recht. Der Tod Benno Ohnesorgs wird als Beweis für den "faschistoiden Charakter" der Bundesrepublik propagandistisch ausgeschlachtet. Aber auch in der DDR begehren junge Menschen vorsichtig auf, gegen einen Staat, der ihre Freiheit massiv beschneidet. Sie wollen wählen können: Beruf, Wohnort, Freunde, Musik. Und ihre Freizeitaktivitäten, die sie sich nicht von der sozialistischen FDJ, der "Freien Deutschen Jugend"-Organisation, diktieren lassen wollen. Viele sind auch nicht einverstanden damit, wie in der Tschechoslowakei russische Panzer den Versuch eines weltoffenen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" niederwalzen. Aber der Protest in der DDR wirkt eher subtil, zum Beispiel über Anspielungen in Liedtexten.
Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren
Die Jugendproteste 1968 sind ein weltweites Phänomen, aber in der Bundesrepublik haben sie auch einen speziellen Hintergrund. Ein Jahr zuvor, 1967, ist ein Buch erschienen, das die Gesellschaft durchgeschüttelt hat: "Die Unfähigkeit zu trauern" von den Psychoanalytikern Alexander und Margarete Mitscherlich. Sie untersuchen darin die Schuld des Einzelnen an politischen Verbrechen am Beispiel des Nationalsozialismus. Den Deutschen bescheinigen sie kollektive Mitleidlosigkeit und fehlende Scham für die NS-Verbrechen, die sie allein Hitler und seiner Führungsriege anlasteten. Einer Mitverantwortung stellten sich die Deutschen nicht. Eine Streitschrift - mit der die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland beginnt, über 20 Jahre nach seinem Ende. Jetzt wollen Kinder von ihren Eltern wissen: Was habt ihr unter Hitler gemacht?
Denn anders als in der DDR sitzen in vielen bundesdeutschen Amtsstuben noch immer ehemalige Nazis: in Verwaltung und Polizei, Ärzteschaft und Justiz. Auch in den Universitäten, deren autoritäre Strukturen fast unverändert fortbestehen. Professoren und Dozenten tagen unter sich, Mitbestimmung für Studenten ist nicht vorgesehen. Doch genau die fordern die Studenten jetzt ein. Die Parole "Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren" wird zum Sinnspruch der Proteste.
Farbflash in die Zukunft
Nur sieben Jahre liegen zwischen 1961 und 1968 - und doch sind es Welten. Fast scheint es, als hätte jemand das Licht angeknipst - und auf einmal ist alles bunt. Wie im Fernsehen: Am 25. August 1967 startet Vizekanzler Willy Brandt mit einem Knopfdruck das Farbfernsehen, 1969 zieht das DDR-Fernsehen nach. Alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen wirken bald wie aus einem anderen Jahrhundert. Wie die Fotos von vor vier, fünf Jahren, auf denen Jungs im Anzug verlegen neben Mädchen im Petticoat stehen. Jetzt liegen langhaarige junge Männer auf abgewetzten Sofas und halten Frauen mit kurzen Röcken im Arm. Auf dem Plattenteller drehen sich die neusten Songs: "Massachusetts" von den Bee Gees, die Beatles-Ballade "Hey Jude" oder "Jumpin' Jack Flash" von den Rolling Stones. Immer mehr englische Titel erobern die Charts, deutsche Musik bleibt aber weiter beliebt: Der Top-Hit des Jahres ist Heintjes "Mama".
Kommunen, Pille und freie Liebe
Den Gegenentwurf zum lieben Sohn Heintje liefern die "Hippies", die sich bewusst nicht an Konsum- und Leistungsgesellschaft anpassen wollen. Ihr Gipfeltreffen ist im Sommer 1969 im kalifornischen Woodstock, wo sie drei Tage lang im strömenden Regen zwischen Cannabis-Schwaden Pop- und Protestmusik hören, friedlich gegen den Vietnamkrieg protestieren und das Gemeinschaftsgefühl genießen. 1970 findet ein deutsches "Woodstock" statt, auf der Ostseeinsel Fehmarn. Sogar Jimi Hendrix kommt, es ist sein letzter großer Auftritt.
Nicht nur auf Festivals, auch im Alltag gehen Männer und Frauen jetzt anders miteinander um. Die ersten Wohngemeinschaften entstehen, "Kommunen" genannt, kritisch beäugt von konservativen Nachbarn. Mit der Pille, die 1961 in Deutschland auf den Markt kam, gibt es das erste verlässliche Verhütungsmittel. 1968 hat sie sich überall durchgesetzt. Es ist der Beginn einer sexuellen Revolution, die das Verhältnis der Geschlechter entscheidend verändern wird.
1968 - ein Jahr mit Strahlkraft, in dem sich der gesellschaftliche und politische Aufbruch konzentriert, der das Gesicht Deutschlands in Zukunft prägen wird. Hier liegen die Wurzeln für Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung, aber auch für die sinnlosen Gewalttaten der deutschen RAF-Terroristen in den 70er Jahren.
Dieser Artikel gehört zum DW Special "Mit 17... Das Jahrhundert der Jugend", das 2014 zum 100. Jahrestag des Beginns des I. Weltkrieges veröffentlicht wurde und in einem Streifzug durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts das Leben junger Männer und Frauen nachzeichnet.