Wolfgang Herrndorf: "Tschick"
9. Oktober 2018Man könnte die Welt aus den Angeln heben, ist größenwahnsinnig und will tausend Dinge auf einmal. Im nächsten Moment: nagender Selbstzweifel, Angst, Unsicherheit. Die Pubertät ist eine federleichte und dann wieder bleischwere Zeit. Vor allem, wenn man nicht zur In-Crew gehört und nicht zur Party des angesagtesten Mädchens der Schule eingeladen ist.
Kopfüber ins Abenteuer!
"Tschick" ist Abenteuerroman, Road Novel, die wunderbar zarte Geschichte von zwei pubertierenden Ausreißern. Maik Klingenberg, der wohlstandsverwahrloste Bürgersohn und der kleinkriminelle Russlanddeutsche Andrej Tschichatschow, genannt Tschick. Zwei Außenseiter, die niemand cool findet und keiner auf Schulfeten einlädt. Ausgerechnet diese Beiden stürzen sich in den Sommerferien kopfüber in ein Abenteuer. Mit einem schrottreifen Lada und ohne Plan fahren sie los, immer weiter gen Osten. Hinter sich lassen sie unfähige Eltern, Berliner Plattenbauten und Liebeskummer. Mit der schlimmsten Sehnsuchtsmusik der Welt geht es querfeldein durch Weizenfelder, Mülldeponien und Mondlandschaften. Sie tanzen im Regen und begegnen Menschen, die so schräg sind wie die sonderbar verfremdeten Landschaften, durch die sie fahren.
"Ich hatte meinen Arm aus dem Fenster gehängt und den Kopf drauf gelegt. Wir fuhren Tempo 30 zwischen Wiesen und Feldern hindurch, über denen langsam die Sonne aufging, irgendwo hinter Rahnsdorf, und es war das Schönste und Seltsamste, was ich je erlebt habe."
Wolfgang Herrndorf hat die seltene Gabe, authentischen Jugendslang in Literatur zu übertragen, ohne künstlich oder bemüht zu wirken. Er schickt die beiden Jungs von den Rändern der Großstadt auf eine wilde Reise. Klar, es geht um Fernweh, die Suche nach Halt und Freundschaft. Wie Herrndorf diese großen Themen in temporeiche Dialoge packt und mit kluger Situationskomik würzt, gehört zum Besten, was je in deutscher Sprache für Jugendliche geschrieben wurde.
Dem Tod abgerungen
Mit "Tschick" erschuf Wolfgang Herrndorf eine literarische Traumlandschaft und ließ zwei Jungs auf der Flucht in die Walachei sich und das Leben finden. Dabei wird es romantisch, aber nie sentimental. Es gibt tumultartige Szenen, und doch geht es mehr um die innere Sehnsucht, um die Schönheit jedes kleinen Augenblicks.
"Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geht nicht mit Fremden, und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. […] Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war."
Diesen im Sommerlicht gleißenden Roman schrieb Wolfgang Herrndorf in der schwierigsten Zeit seines Lebens. Er war 2010 an einem unheilbaren Gehirntumor erkrankt. Nach der ersten Operation begann er erst "Tschick", dann den überaus komischen und gleichzeitig sehr ernsten Politthriller "Sand" auszuarbeiten. Im Kampf mit der Krankheit trotzte er seinem immer mehr die Struktur verlierenden Gehirn zwei atemberaubende Meisterwerke ab.
Kritiker verglichen Herrndorfs Coming-of-Age-Geschichte mit den großen Werken von Mark Twain und J. D. Salinger. Nicht umsonst wurde dieses schmale Buch ein Bestseller – über eine Million mal verkauft, nach Herrndorfs Tod von Starregisseur Fatih Akin verfilmt und als Theaterstück auf Dutzende von Bühnen gebracht.
Diese beiden Jungs erinnern an Momente der eigenen Jugend, an längst überwundene Unsicherheiten und vergessene Sehnsüchte. Plötzlich wünscht man sich zurück an den Beginn der Sommerferien. Erträumt sich einen Jungen mit einem alten Auto, der vor der Tür wartet, und sieht sich selber, wie man tief Luft holt, auf alles pfeift und einsteigt. Das ist die Macht der Fiktion, wie sie auch nach Wolfgang Herrndorfs Tod weiter lebendig bleibt.
Wolfgang Herrndorf: "Tschick" ( 2010), Rowohlt Verlag
Wolfgang Herrndorf starb 2013 im Alter von 48. Ehe er Schriftsteller wurde, hat er Malerei studiert und als Illustrator gearbeitet, vor allem für das Satiremagazin "Titanic". Nachdem bei ihm 2010 ein bösartiger Hirntumor festgestellt worden war, führte Herrndorf ein digitales Tagebuch, "Arbeit und Struktur", in dem er über sein Leben mit der tödlichen Krankheit berichtete. Es erschien posthum 2013 als Buch. Sein letzter Roman, "Bilder einen großen Liebe", blieb unvollendet.