Jetzt im Kino: "Tschick" von Fatih Akin
15. September 2016Weite grüne Wiesen und gelbe Raps-Felder, dünnbesiedelte Landschaften. Im Hintergrund ertönt nur das leise Surren zahlloser Windräder am Horizont. Die Sonne taucht das ganze in eine dampfend heiße Atmosphäre. Auf den Straßen und Wegen kaum Autos. Einzig ein blauer Lada mit zwei Jungs hinter der Windschutzscheibe bahnt sich den Weg durch die unwirtliche Landschaft.
Tschick: Zwei Jungs, die die Welt entdecken…
Vielleicht sind es diese Szenen, die den Zuschauern der Verfilmung von "Tschick" am ehesten in Erinnerung bleiben. Zwei Jungs, die die Welt entdecken. Die mit neugierigen Blicken, die sie manchmal hinter überdimensionierten Sonnenbrillen verbergen, die Landschaft betrachten, die an ihnen vorüberzieht. Fatih Akins Film lebt von solchen Bildern. In diesen Sequenzen ist "Tschick" am stärksten.
Es ist viel geschrieben worden über das Jugendbuch "Tschick", das 2010 erschien und der deutschen Literatur einen ganz neuen, unverbrauchten Tonfall schenkte. Die Geschichte der beiden Außenseiter Maik und Tschick erinnerte in Sprache und Gestik an Klassiker wie "Der Fänger im Roggen": Jugendliche, deren Monologen und Dialogen man als Leser gern folgt, weil man das Gefühl hat, hier wirkt nichts gekünstelt, hier hat ein Autor ganz genau hineingehorcht in die Welt der Jugend und alles in einen unprätentiös geschriebenen Roman gegossen.
Kultroman in der Tradition von J.D. Salinger
Das hat auch viele erwachsene Leser begeistert - wie auch Salingers Buch "Der Fänger im Roggen" im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ja zum einem Kultroman mehrerer Generationen geworden ist. "Tschick" hat viele dieser Qualitäten. Nicht zuletzt deshalb, weil er Lesergenerationen zusammengebracht hat, ist "Tschick" in den letzten fünf Jahren über 2,2 Millionen Mal verkauft worden.
Und auch im Ausland hat man gestaunt über dieses ungewöhnliche Buch aus Deutschland, das man manchmal ja eher mit schweren und anspruchsvollen Stoffen in der Literatur zusammenbringt. "Tschick" wurde in über 25 Ländern veröffentlicht.
Klar, dass Filmproduzenten und Regisseure ganz scharf waren auf diesen Stoff. Verfilmen wollte Regisseur Fatih Akin ("Kurz und schmerzlos", "Gegen die Wand", "The Cut") den Roman eigentlich schon sehr früh. Auf der Buchmesse 2011 war er erstmals auf den Roman aufmerksam geworden. Nach der Lektüre von "Tschick" war Akin begeistert: "Ich habe es verschlungen und schon beim Lesen gedacht, das würde ich gern verfilmen".
Doch Akin musste sich anstellen. Es waren zunächst andere Namen im Gespräch für die Verfilmung von Herrndorfs Buch. Ein prominenter Regisseur bekam dann auch den Zuschlag. David Wnendt ("Die Kriegerin", "Feuchtgebiete", "Er ist wieder da") hatte die Vorbereitungen für das Projekt schon abgeschlossen, stieg dann aber doch wieder aus. Kurzfristig wurde ein anderer Regisseur gesucht, Akin sprang ein.
Akin: "Das kenne ich aus meinem eigenen Leben sehr gut."
Was hat ihn an dem Jugendroman über die zwei Jungs, die in ihrer Klasse Außenseiter sind und sich anfreunden, gereizt? Es sei noch nicht einmal die Außenseiter-Thematik gewesen, die für ihn im Vordergrund gestanden habe: "Mich hat am meisten interessiert, dass hier jemand in ein Mädchen aus seiner Klasse verliebt ist, das ihn aber nicht beachtet", so der Regisseur: "Er muss all diese Abenteuer erleben, und als er wieder zurückkommt, sieht sie ihn endlich. Das ist ihm aber mittlerweile völlig egal. Das kenne ich aus meinem eigenen Leben sehr gut."
Nach dem überraschenden Ausscheiden von Regisseur Wnendt wurde Fatih Akin verpflichtet - sieben Wochen vor dem geplanten Drehstart. Produzent Marco Mehlitz sieht diese besonderen Produktionsumstände im Nachhinein sogar als Vorteil: "Der Film hat eine große Kraft. Vielleicht hätte die anders ausgesehen, wenn er eine lange Vorbereitungszeit gehabt hätte, die alles hinterfragt hätte", sagt Mehlitz.
Fatih Akin hat für "Tschick" ein junges, relativ unbekanntes Ensemble verpflichtet. Tristan Göbel spielt Maik, aus dessen Perspektive die Romanhandlung erzählt wird, der Rußlanddeutsche Junge Tschick wird von Anand Batbileg verkörpert.
Akin: "…in jeder Hinsicht gerettet."
"Das war die wichtigste Entscheidung in meinem Leben, den Film zu dem Zeitpunkt angenommen zu haben", sagt der Regisseur heute über das Projekt, dass so plötzlich auf ihn zukam: "Ich war an einem Punkt in meinem Leben, wo ich so etwas gebraucht habe. Der Film hat mich gerettet, in jeder Hinsicht."
Akins letzter Film "The Cut", das mit Abstand teuerste Projekt seiner Karriere, die ambitionierte Filmerzählung des Völkermordes an den Armeniern, war zuvor grandios gescheitert: Die Kritik hatte den Film zerrissen. Und auch das Publikum, das Akins frühere Filme stets goutiert hatte, war ferngeblieben.
Es ist vielleicht nicht ganz falsch, wenn man von einer ersten großen Schaffenskrise Fatih Akins spricht. Das verbirgt sich wohl auch hinter der Aussage des gebürtigen Hamburgers mit türkischen Wurzeln, wenn er sagt: "Der Film hat mich gerettet in jeder Hinsicht."
"Tschick" ist ein Stoff, der Akins filmischem Temperament entspricht: kein großes Geschichtsdrama, sondern eine kleine Geschichte um zwei Außenseiter. Kein teures Ausstattungskino, sondern zwei Jungs und ihr Auto in einer menschenleeren Landschaft. Dazu Dialoge, die unprätentiös, witzig und authentisch rüberkommen.
Akins "Tschick"-Version stößt auf positive Resonanz
Akins Film kommt gut an, erste Pressereaktionen fallen durchweg positiv aus: "Herrndorf entlässt seine Leser mit dem Gefühl, dass für Maik und Tschick das Wünschen schon noch helfen wird. Akin ist da sogar eine Spur strenger," schreibt beispielsweise die "Süddeutsche Zeitung" und fährt fort: "Auch das ist bemerkenswert an dieser schönen Adaption - dass man dem Kino hier nicht vorwerfen kann, am Ende doch nur wieder die windelweiche Wunschmaschine zu haben."
Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" zeigt sich ebenfalls angetan: "Wenn Fatih Akin etwas hinzufügt, dann sind es kluge Akzente und einen sehr guten Soundtrack, der den Horizont der beiden Ausreißer dann doch übersteigen würde, ohne dass das aber irgendwie aufdringlich wirkt."
Ein sympathischer Jugendfilm
Vielleicht fehlt der "Tschick"-Verfilmung ein wenig die mitreißende dramaturgische Kraft der frühen Filme Fatih Akins. Man könnte ihm vorwerfen, dass er etwas sehr gemächlich inszeniert ist. Doch es ist ein rundum sympathischer Jugendfilm geworden. Ob sich die Altersklassen, um die es in Buch und Film geht, die 14- bis 15-Jährigen, die Kinoversion von "Tschick" nun anschauen werden, das ist eine spannende Frage, die in den nächsten Wochen beantwortet wird. Denn "Tschick" hat keine Special-Effects, keine drastischen Szenen und Dialoge à la "Fack ju Göhte" und auch keine großen Stars zu bieten.
Mehr zu"Tschick" in der kommenden Ausgabe von KINO (17.9.). Außerdem stellen wir vor: Oliver Stones neuer Film "Snowden" und die in Venedig ausgezeichnete Nachwuchsdarstellerin Paula Beer im Porträt.