Wirtschaft bestimmt Wahl in Großbritannien
5. Mai 2015Märkte und Investoren mögen bekanntlich keine Unsicherheit. Doch Unsicherheit gibt es reichlich vor der heutigen Parlamentswahl, die wohl so knapp ausfallen wird wie keine Wahl in Großbritannien in den vergangen 20 Jahren. Trotzdem bleibt die Finanzwelt erstaunlich gelassen.
Keine der Parteien konnte in den Umfragen bisher einen deutlichen Vorsprung erzielen, die meisten Beobachter erwarten, dass weder Labour noch die konservativen Tories eine absolute Mehrheit erreichen. Die Folge wären wochenlange Koalitionsverhandlungen. Sollten die sich zu lange hinziehen, so einige Warner, könnte in der Folge auch die Wirtschaft leiden.
Hinzu kommt die Möglichkeit eines Brexit, eines Austritts der Briten aus der Europäischen Union. Der ist wahrscheinlicher geworden, seitdem der konservative Premierminister David Cameron für den Fall seiner Wiederwahl angekündigt hat, das Volk bis 2017 darüber abstimmen zu lassen.
Trotzdem ist von Turbulenzen an den Finanzmärkten vor der Wahl nichts zu sehen. Die Aktien der wichtigsten britischen Unternehmen haben seit Jahresbeginn rund acht Prozent zugelegt und steuern auf neue Rekordmarken zu. Die Finanzierungskosten sind günstig, die Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen haben sich seit ihrem Tiefstand im Januar kaum bewegt. Und das britische Pfund notiert bei knapp 1,53 US-Dollar, dem höchsten Stand seit fünf Wochen.
Wirtschaftliche Sorgen
Der Zustand der Wirtschaft hat im Wahlkampf eine zentrale Rolle gespielt. Nach fünf Jahren Stagnation, Sparprogrammen und allmählicher Erholung versprechen die großen Parteien nun einhellig, das Haushaltsdefizit zu reduzieren und den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen.
Die Konservativen verweisen darauf, dass die Arbeitslosenquote auf 5,8 Prozent gefallen ist, das ist der tiefste Stand seit 2008. Premier Cameron spricht von einem "Job-Wunder". Seine Partei wirbt außerdem damit, dass sich die Reallöhne im ersten Quartal des Jahres leicht erhöht haben.
In Camerons Amtszeit als Premierminister fiel eine rasche wirtschaftliche Erholung mit Wachstumsraten, die zu den größten in der westlichen Welt gehören. Nun will er, wie er sagt, "den Job zu Ende bringen".
Ganz anders bewertet die Labour-Partei den Arbeitsmarkt. Obwohl in Camerons fünfjähriger Amtszeit 1,5 Millionen neue Jobs entstanden sind, sei es den Konservativen nicht gelungen, den Lebensstandard der Beschäftigten zu verbessern, so ihre Kritik. Zu viele Arbeitsnehmer würden schlecht bezahlt oder geringfügig beschäftigt, und von steigenden Reallöhnen sei wenig zu spüren. Die wirtschaftliche Erholung sei bei normalen Bürger schlicht nicht angekommen, so die Botschaft von Ed Miliband, dem Labour-Spitzenkandidaten.
Die Konjunkturdaten der vergangenen Woche scheinen die Kritik von Labour zu stützen. Im ersten Quartal des Jahres ist die britische Wirtschaft so schwach gewachsen wie seit 2012 nicht mehr, die Entwicklung in der Industrie und im Baugewerbe verlief enttäuschend.
Kaum Details
Wenige Tage vor der Wahl liegen die beiden großen Parteien in den Umfragen gleichauf. Die Wahlprogramme, die sie Anfang April veröffentlicht haben, bieten unentschlossenen Wählern wenig Hilfestellung für eine Entscheidung. Konkrete Antworten auf die Frage, wie die Parteien die Staatsfinanzen in Ordnung bringen wollen, sucht man dort vergebens.
Konservative, Labour und die Liberalen Demokraten, bislang Koalitionspartner der Konservativen, beteuern alle, sie wollten das Haushaltsdefizit verringern, das derzeit fünf Prozent der Wirtschaftsleistung beträgt.
Dabei gehen die Parteien jedoch von zu optimistischen Annahmen aus, etwa bei der Erwartung künftiger Steuereinnahmen. Zu diesem Schluss kommt zumindest das Institute for Fiscal Studies (IFS), eine Forschungseinrichtung, die die Wahlprogramme analysiert hat.
"Alle Parteien erzählen uns, wofür sie mehr Geld ausgeben wollen", sagte IFS-Direktor Paul Johnson bei der Vorstellung seiner Ergebnisse. "Aber keine Partei sagt detailliert, wo sie die Bürger belasten will."
Die Konservativen
Zu den Wahlversprechen der Tories gehört die vollständige Beseitigung des Haushaltsdefizits bis 2018. Durch harte Sparmaßnahmen, die sich auf 5,2 Prozent der Wirtschaftsleistung summieren würden, soll dann sogar ein Überschuss erwirtschaftet werden. Die Konservativen wollen außerdem die Steuern für fünf Jahre einfrieren, Einkommens- und Mehrwertsteuer oder Sozialabgaben sollen in diesem Zeitraum nicht steigen.
Die Versprechen ähneln denen, die die Tories bereits vor fünf Jahren gemacht haben. Auch damals wollten sie das Haushaltsdefizit reduzieren, doch die Schuldenkrise in Europa machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Selbst das Versprechen, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen, musste Cameron brechen, er hob sie um 2,5 Prozentpunkte an.
Labour
Auch die Labour-Partei strebt einen ausgeglichenen Haushalt und später auch einen Überschuss an, nennt für diese Ziele aber keine Fristen. Laut IFS will Labour die Kreditaufnahme in einer Größenordnung reduzieren, die 3,6 Prozent der Wirtschaftsleistung entspricht. Wenn das gelingt, könnte auf weitere Einsparungen verzichtet werden. Gleichzeitig sehen die Labour-Pläne einige kleinere Steuererhöhungen vor.
Die Partei will zudem die Probleme auf dem britischen Immobilienmarkt in Angriff nehmen und hat angekündigt, mehr zu bauen. Bis 2020 sollen mindestens 220.000 neue Wohnungen entstehen. Mieterhöhungen will Miliband dabei an die Inflationsentwicklung koppeln. Gleichzeitig will er Steuern streichen, die beim Erstkauf einer neuen Immobilie anfallen.
Liberal Democrats
Die Liberal Democrats, Juniorpartner der Konservativen in der bisherigen Regierung, präsentieren sich als Partei der bürgerlichen Mitte. Auch sie wollen das Haushaltsdefizit angehen. Die angestrebte Konsolidierung beläuft sich nach Berechnungen des IFS auf 3,9 Prozent der Wirtschaftsleistung - etwas mehr als bei Labour, weniger als bei den Konservativen.
Rund zwölf Milliarden Pfund wollen die Liberalen in den Budgets einiger Ministerien einsparen und außerdem die Sozialausgaben reduzieren. Der Kampf gegen Steuerbetrüger soll dagegen bis zum Ende der nächsten Legislaturperiode rund zehn Milliarden Pfund zusätzlich in die Staatskasse spülen - mehr als in den Plänen der anderen Parteien.
Ausgeschlossen haben die Liberalen dagegen Einschnitte bei den Gesundheitsausgaben. Höhere Bildungsausgaben und eine bessere Bezahlung für Staatsdiener sind weitere Ziele, von denen die Partei in möglichen Koalitionsverhandlungen nicht abrücken will.