Wirecard-Milliarden gab es vermutlich nie
22. Juni 2020Das monatelange Drama um die Bilanzen von Wirecard steuert auf den letzten Akt zu. Der Finanzdienstleister geht inzwischen davon aus, dass die vermissten 1,9 Milliarden Euro gar nicht existieren. Der Vorstand nehme aufgrund weiterer Prüfungen an, dass die beiden bisher von Wirecard ausgewiesenen Guthaben auf asiatischen Treuhandkonten "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen", erklärte das Unternehmen in einer Börsenmitteilung.
Das Unternehmen war bisher von der Existenz dieser Konten ausgegangen und hatte die 1,9 Milliarden Euro als Aktivposten ausgewiesen. Die Summe entspricht nach Angaben des Unternehmens in etwa einem Viertel der Konzernbilanzsumme. Als Konsequenz nehme man die Einschätzungen des vorläufigen Ergebnisses des Geschäftsjahres 2019 sowie des ersten Quartals 2020 zurück. Auch könnten mögliche Auswirkungen auf die Jahresabschlüsse vorheriger Geschäftsjahre nicht ausgeschlossen werden, hieß es in der Mitteilung weiter.
Finanzaufsicht Bafin entsetzt
Wirecard muss sich nun auf weitergehende Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft einstellen. "Wir prüfen alle in Betracht kommenden Straftaten", sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I. Ob konkret wegen Bilanzmanipulation ermittelt wird oder dies geplant ist, sagte die Sprecherin nicht. Die Finanzaufsicht Bafin zeigte sich entsetzt über den Bilanzskandal: "Das ist
ein komplettes Desaster, das wir da sehen, und es ist eine Schande, dass so etwas passiert ist", sagte der Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Felix Hufeld. "Wir befinden uns mitten in der entsetzlichsten Situation, in der ich jemals einen Dax-Konzern gesehen habe." Die Kritik an der Rolle der Aufsichtsbehörden - inklusive der Bafin - nehme er voll und ganz an.
Als Reaktion auf der Eingeständnis von Wirecard entzog die Ratingagentur Moody's die Bonitätsnote. Die Experten hätten beschlossen, die Ratings zurückzuziehen, weil es Unregelmäßigkeiten in der Bilanz gebe, die noch aufzuklären seien, teilte Moody's mit. Die Agentur verfüge nicht mehr über ausreichende Informationen, um eine Bewertung über die Kreditwürdigkeit des Zahlungsabwicklers abzugeben. Am Freitag hatte Moodys's die Bonitätsnote von Wirecard bereits um ganze sechs Stufen auf Ramschniveau zurückgestuft.
Aktienkurs setzt Talfahrt fort
Bereits zuvor war der Kurs der Wirecard-Aktie noch tiefer abgestürzt. Sie büßte im frühen Handel weitere knapp 38 Prozent auf 15,10 Euro ein, nachdem sie bereits vergangenen Donnerstag und Freitag um bis zu 82 Prozent eingebrochen war. Damit schrumpft der Börsenwert des Unternehmens auf knapp 1,9 Milliarden Euro, womit sich seit Mittwoch 11 Milliarden in Luft aufgelöst haben.
Im laufenden Geschäft drohen dem Unternehmen Liquiditätsprobleme. Weil die Wirtschaftsprüfer von EY wegen der fehlenden Milliarden das Testat für den Jahresabschluss verweigern, könnten die Banken Wirecard nun den Geldhahn zudrehen. Interims-Chef James Freis kämpft ums Überleben des Konzerns: Man stehe mit Hilfe der am Freitag angeheuerten Investmentbank Houlihan Lokey weiterhin in "konstruktiven Gesprächen" mit den kreditgebenden Banken.
Banken wollen Wirecard stabilisieren
Am Finanzplatz Frankfurt war zu hören, dass die Banken Wirecard weiter am Leben halten wollen. Die Sorgen vor den Schockwellen sind wohl zu groß. Wie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" berichtete, wollen die Banken das Unternehmen nicht fallen lassen. "Keiner hat ein Interesse daran, den Kredit zu kündigen", hieß es demnach aus einem der beteiligten Geldhäuser. "Alle wollen jetzt das Ding kurzfristig stabilisieren."
Aus dem Umfeld von Wirecard hieß es dem Bericht zufolge, man hoffe auf eine Einigung bis Ende kommender Woche. Zudem will Wirecard Schritte prüfen, das Geschäft fortzuführen. Darunter seien Kostensenkungen sowie Umstrukturierungen, Veräußerung oder Einstellungen von Unternehmensteilen und Produktsegmenten. Die IT-Systeme von Wirecard liefen ohne Einschränkungen, hieß es weiter. Allerdings muss Wirecard auch damit rechnen, dass die Kunden angesichts des Vertrauensverlustes das Weite suchen.
Absturz binnen einer Woche
Seit Mitte vergangener Woche hatte sich die Situation des Dax-Konzern immer weiter zugespitzt. An Freitag musste der umstrittene Wirecard-Gründer und Vorstandschef Markus Braun seinen Posten räumen. Die Ratingagentur Moody's stufte die Kreditwürdigkeit das Unternehmens auf "Ramsch" herab. Ebenfalls am vergangenen Freitag hatten die philippinischen Banken BDO Unibank und Bank of the Philippine Islands mitgeteilt, dass Wirecard kein Klient bei ihnen sei. Dokumente externer Prüfer, die das Gegenteil besagten, seien gefälscht. Auf den Konten der beiden Banken hätte die Summe eigentlich liegen sollen. Am Sonntag hat auch die Zentralbank in Manila mitgeteilt, dass die fehlenden Milliarden wohl nicht auf den Philippinen sind.
Wirecard wickelt bargeldlose Zahlungen für Händler ab, sowohl an Ladenkassen als auch online. Das Unternehmen ist seit mehr als einem Jahr in Bedrängnis, seit die Londoner "Financial Times" dem Management in einer Serie von Artikeln Bilanzmanipulationen vorwarf. Auch die Finanzaufsicht Bafin und die Münchner Staatsanwaltschaft untersuchen verschiedene Aspekte im Fall Wirecard.
hf/ww (rtr, afp, dpa)