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Wirecard - Nebelkerze oder Brandsatz?

Andreas Rostek-Buetti
21. Juli 2020

Wo viel Rauch ist, wird es irgendwo brennen - wo aber zu viel Rauch ist, sieht man kaum, wo genau es eigentlich brennt. Der Skandal um den deutschen Dax-Konzern Wirecard hat das Zeug zum internationalen Brandsatz.

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Wirecard-Schriftzug am Sitz der wirecard AG in Aschheim Dornach
Bild: picture-alliance/SvenSimon/F. Hoermann

Was wusste der deutsche Finanzminister, der aktuelle (von der SPD) und der frühere (von der CDU), wusste der Wirtschaftsminister überhaupt etwas, was tat die Bundeskanzlerin mit diesem Wissen in China? Welche Rolle spielten Indonesien und Dubai und Libyen und schließlich Belarus und Russland? Und wo steckt der Bösewicht? Und ist das wirklich Jan Marsalek, Ex-Finanzvorstand des Dax-Konzerns Wirecard? Und warum nicht Vorstandschef Markus Braun?

Und last not least, sondern wahrscheinlich zuallererst: Wie war es möglich, dass eine kleine deutsche Firma, die mit digitalen Bezahlsystemen hausieren ging, als Dax-Konzern erst mehr wert sein soll als die Deutsche Bank und dann plötzlich bankrott da steht, weil es 1,9 Milliarden Euro in der Bilanz nie gegeben hat - und keiner hat's gemerkt von den Prüfern bei EY (einst Ernst & Young), bei der Aufsicht Bafin, der Bundesbank und, eben, allerlei Ministerien bis hin zum Kanzleramt? Was also sind die Sicherheitsleinen wert, die die deutsche Finanzwirtschaft glaubwürdig und attraktiv machen sollen?

Kreditkarten zum kontaktlosen Bezahlen liegen in einem Showroom von Wirecard auf einem Tisch
Fintech statt Sparkasse?Bild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe

Eine Menge Fragen. Und sie lassen sich derzeit alle nicht so recht beantworten, wenn man die verwickelte Geschichte der Wirecard AG und ihrer Chefs Braun und Marsalek betrachtet.

Fintech statt Sparkasse

Da sind zunächst einmal ein paar mehr oder weniger handfeste Fakten: Wirecard ist eine Firma aus Aschheim in Bayern, für die zuletzt rund 5800 Menschen arbeiteten. Ihr Geschäft: die Abwicklung von digitalen Zahlungen (irgendwann mit angegliederter eigener Bank). Dafür bezieht die Firma kleine Provisionen und kommt ganz groß raus: 2006 landete Wirecard im TecDax und verdrängt im September 2018 die Commerzbank im Deutschen Aktienindex Dax, dem Zirkel der 30 wichtigsten deutschen Aktienunternehmen. Im Juni 2020 meldet Wirecard Insolvenz an.

Da hatte das Unternehmen innerhalb weniger Tage mehr als zwei Drittel seines Börsenwerts verloren. Der Chef, Markus Braun, war unter anderem wegen Marktmanipulation festgenommen worden, der Chief Operating Officer, Jan Marsalek, tauchte unter und wird mit Haftbefehl gesucht.

Den beiden Österreichern war es im Laufe der Jahre gelungen, ihr Unternehmen aus der Gegend von München als große deutsche Hoffnung für den Übergang vom altbackenen Bankgeschäft zur Ära des digitalen Finanzwesens zu präsentieren - Fintech statt Sparkasse.

Ex-Wirecard-Chef Markus Braun (im Januar)
Ex-Wirecard-Chef Markus Braun (im Januar)Bild: picture-alliance/dpa/L. Mirgeler

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die vielen Gerüchte und Berichte verdichteten und klar war, dass Wirecard wohl im Wesentlichen mit Luftbuchungen groß geworden war. Im Juni dieses Jahres verweigerte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY ihre Unterschrift unter die Bilanz des Konzerns, eine Sonderprüfung durch die Konkurrenten von KPMG folgte. Wirecard musste eingestehen, dass 1,9 Milliarden Euro aus der Bilanz nicht aufzufinden waren und wahrscheinlich gar nicht existierten - damit verschwand ein Viertel der gesamten Bilanzsumme von Wirecard im Nichts. Und niemand hatte etwas gemerkt?

Fragen im Finanzausschuss

Das ist die Frage, die nun das gesamte deutsche Aufsichtssystem fürs Finanzwesen in Verruf zu bringen droht. In dieser Woche kam nun endlich der Beschluss, noch in diesem Monat (am Mittwoch, den 29. Juli) im Bundestag den Finanzausschuss zu einer Sondersitzung zusammenzurufen - mit weiteren Fragen:

  • Wenn schon die Wirtschaftsprüfer (EY) nichts sehen und hören, warum verfolgt weder die Bundesbank noch die ihr angegliederte BaFin seit längerem vorliegende Zweifel und Berichte in Sachen Wirecard?
  • Warum setzt sich die Bundeskanzlerin noch im September letzten Jahres in China für das deutsche Unternehmen ein, obwohl im Finanzministerium bereits im Fall Wirecard ermittelt wird? Da war der Verdacht auf Unregelmäßigkeiten bereits lauter und lauter geworden.
  • Was also wusste die deutsche Regierung in Sachen Wirecard und warum tat sie nichts bzw. tat sie das, was sie tat?

"Das ist die letzte Chance der Regierung, einen Untersuchungsausschuss noch abzuwenden", so fasste Anfang dieser Woche der Grünen-Finanzpolitiker Danyal Bayaz die Stimmung zusammen und warf der Regierung vor, nur scheibchenweise aufzuklären.

Ein Untersuchungsausschuss müsste mutmaßlich nicht zuletzt nach Russland schauen. Dahin führen nämlich jüngste Berichte, nach denen die Geschichte des untergetauchten Wirecard-Manager Jan Marsalek sich liest wie eine Räuberpistole - oder geht es nicht schon um einen Agententhriller?  

In den vergangenen Tagen wussten die Zeitschrift Spiegel und das deutsche Handelsblatt zusammen mit der Rechercheplattform Bellingcat Details über die Fluchtwege des frühreren Wirecard-Manns Marsalek zu liefern: Hatte es zunächst geheißen, Marsalek habe sich nach Indonesien abgesetzt, tauchten nun offenbar Belege auf für eine Reise über Klagenfurt und Tallin nach Minsk, Belarus. Von da sei es weiter nach Russland gegangen. Marsalek, so schrieb das Handelsblatt, stehe inzwischen auf einem Anwesen bei Moskau unter Aufsicht des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Davon wiederum wisse man im Kreml nichts, so der Sprecher Dmitri Peskow. 

Schlüsselfigur Marsalek?

Der Mann könnte zur Schlüsselfigur des Skandals werden - oder zum probaten Nebelwerfer. Verantwortlich für das internationale Geschäft von Wirecard war er es auch, der für Zukäufe vor allen in asiatischen Ländern sorgte und dafür, dass die Bilanz glänzte, auch wenn das Geschäft im heimischen Deutschland mau lief. Nicht nur von Luftbuchungen ist dabei mittlerweile die Rede - auch von möglichen Systemen großangelegter Geldwäsche. Nur: In wessen Auftrag? Der Österreicher Marsalek, so berichten mehrere Reporter, brüstete sich immer wieder mit seinen Kontakten in die Geheimdienstszene - ob in Wien, im syrischen Palmyra oder in Moskau.

Ging es also womöglich gar nicht so sehr um moderne digitale Zahlungssysteme bei Wirecard, sondern um ganz altbacken gewonnene kriminelle Profite, mit denen düstere Geschäfte abgewickelt werden sollten? Oder ist genau das ein weiterer Nebelvorhang? Vielleicht wäre ein Untersuchungsausschuss durchaus eher Chance als Gefahr? Und wenn nicht für die Regierung in Berlin so doch für das deutsche Finanzsystem?