Wird Indien Deutschlands neues China?
24. Oktober 2024Führende deutsche Unternehmer und Politiker reisen in dieser Woche nach Neu-Delhi. Dort beginnen am Freitag (25.10.2024) die siebten deutsch-indischen Regierungskonsultationen, die von Bundeskanzler Olaf Scholz und dem indischen Premierminister Narendra Modi gemeinsam geleitet werden. Tags zuvor beginnt dort die Asien-Pazifik-Konferenz der deutschen Wirtschaft. Dabei werden Möglichkeiten erörtert, die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Indien und generell der Asien-Pazifik-Region weiter zu stärken.
"Die Region wird für Deutschland und die EU aufgrund geopolitischer Verschiebungen und des zunehmenden Wunsches nach Diversifizierung immer wichtiger", sagt Friedolin Strack, Leiter Internationale Märkte beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), zur DW. "Die zunehmende Bedeutung zeigt sich im Wert der Exporte aus Deutschland in die Asien-Pazifik-Region, die sich im Jahr 2023 auf insgesamt 214,6 Milliarden Euro belaufen", erklärt er.
"Fokus auf Indien"
Um Indiens wachsende Bedeutung für Deutschland hervorzuheben, hat Scholz‘ Regierung letzte Woche ein Papier mit dem Titel "Fokus auf Indien" verabschiedet. Es zielt darauf ab, die strategische Partnerschaft zwischen den beiden Seiten in vielen Bereichen - darunter Handel, Migration, Klima und Außenpolitik - zu stärken. Berlin hat außerdem eine Reihe von 30 Maßnahmen verkündet, um die Einwanderung aus Indien zu fördern. So sollen qualifizierte Arbeitskräfte angezogen und Lücken auf dem deutschen Arbeitsmarkt geschlossen werden. Am Freitag werden sowohl Scholz als auch Modi vor Hunderten von Wirtschaftsführern sprechen, die an der Wirtschaftskonferenz in Neu-Delhi teilnehmen.
Das alle zwei Jahre stattfindende Treffen findet zu einer Zeit statt, in der sich die deutsche Wirtschaft inmitten stagnierenden Wachstums, zunehmender struktureller Herausforderungen und einer sich verschlechternden Stimmung in einer Abschwungphase befindet. Umfragen von Branchenverbänden zeigen, dass die Unternehmen hinsichtlich des Geschäftsklimas im Inland zunehmend pessimistischer werden.
Hinsichtlich ihrer Aussichten im asiatisch-pazifischen Raum sind die deutschen Unternehmer jedoch weiterhin optimistisch. Eine aktuelle Studie der Deutschen Auslandshandelskammern (AHK) und des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) bestätigt die positive Stimmung unter den in der Region tätigen deutschen Unternehmen - während der Optimismus im China-Geschäft nach wie vor gedämpft ist.
Abhängigkeit von China und Risikominderung
China steht seit langem im Fokus deutscher Unternehmen in Asien. Deutsche Firmen, insbesondere in den Bereichen Automobil- und Maschinenbau sowie die Chemiebranche, sind auf Aufträge des asiatischen Riesen angewiesen, wollen sie ihre Kapazitäten auslasten und Tausende Arbeitsplätze erhalten oder schaffen.
Die Abkühlung der chinesischen Wirtschaft hat diese Unternehmen jedoch hart getroffen und sie zu Umstrukturierungen und Kostensenkungen gezwungen. Und auch die wachsenden geopolitischen Spannungen zwischen Peking und dem Westen haben sie darin bestärkt, ihr Engagement in China zu reduzieren und sich zur Risikominderung unabhängiger von der Volksrepublik zu machen. So versuchen jetzt viele deutsche Unternehmen, neue Märkte zu erschließen - auch wenn diese Diversifizierung eine große Herausforderung darstellt.
"Die deutsche Wirtschaft hat sich in den letzten 40 Jahren auf dem chinesischen Markt etabliert und ein komplexes, gut funktionierendes Netzwerk aus Lieferketten, Produktionswegen und Vertriebskanälen aufgebaut", sagt Volker Treier, Außenhandelschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), der DW. "Dieses Netzwerk", so Treier weiter, "lässt sich nicht ohne weiteres auf andere Märkte übertragen. So produzieren rund 90 Prozent der deutschen Unternehmen in China für den chinesischen Markt, es besteht also eine enge Verbindung zum chinesischen Binnenmarkt."
Indien: Chancen und Herausforderungen
Indien wird für deutsche Unternehmen immer wichtiger, da die Wirtschaft des südasiatischen Landes ein rasantes Wachstum verzeichnet und der Handel zwischen beiden Seiten stark ansteigt - 2023 wird er einen Rekordwert von 30,8 Milliarden Euro erreichen.
"Deutsche Unternehmen planen, ihre Investitionen in Indien in den kommenden Jahren auszuweiten, angezogen von den niedrigen Arbeitskosten, der politischen Stabilität und der Verfügbarkeit von Fachkräften", heißt es in einer Studie mit dem Titel "German-Indian Business Outlook 2024", die von der Beratungsgesellschaft KPMG und der deutschen Außenhandelskammer (AHK) durchgeführt wurde.
Doch auf dem indischen Markt stünden sie vor großen Herausforderungen, heißt es in dem Bericht. Das seien unter anderem bürokratische Hürden, eine verbreitete Korruption und ein komplexes Steuersystem. Doch seien die "deutschen Unternehmen zuversichtlich, was ihre langfristigen Aussichten in Indien angeht." Die Wirtschaft des Subkontinents werde in den kommenden Jahren voraussichtlich stark wachsen, und die Unternehmen seien gut positioniert, um davon zu profitieren.
Auch Friedolin Strack vom BDI hält Indien für einen "enorm wichtigen Wachstumsmarkt für die deutsche Industrie". Die Investitionsbedingungen dort hätten sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert, unter anderem aufgrund des Ausbaus der Infrastruktur, der Verfügbarkeit von Fachkräften und der schnellen Einführung digitaler Technologien. "Deutsche Unternehmen sind sehr daran interessiert, ihr Engagement dort zu vertiefen."
Dennoch müsse Indien für deutsche Unternehmen nicht gleich "das neue China" werden, so Volker Treier vom DIHK: "Es ist nie ein Entweder-oder. Der globale Handel ist kein Nullsummenspiel". Sein Wirtschaftsverband werde sich weiter für die Förderung starker Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland, China und Indien einsetzen.
Trier zufolge zeigten Umfragen des DIHK unter deutschen Unternehmen, dass sich die Firmen der Risiken und Chancen ihrer Aktivitäten in China und Indien bewusst seien. "Aber - zumindest im Moment - scheinen die Risiken die Chancen nicht aufzuwiegen."
Chancen im asiatisch-pazifischen Raum
Laut einer Umfrage der AHK China zum Geschäftsklima entscheiden sich die meisten deutschen Unternehmen, die ihre Aktivitäten außerhalb Chinas diversifizieren möchten, ihre Tätigkeit in andere asiatisch-pazifische Länder zu verlagern. "Insbesondere Indien, Japan und Südkorea profitieren von diesem Trend", sagt Treier. "In Südostasien sind es Thailand, Singapur und Vietnam."
"Eine wirkliche Produktionsverlagerung hat allerdings noch nicht stattgefunden", gesteht er und verweist auf Hindernisse wie regulatorische Anforderungen, hohe Kosten und Schwierigkeiten bei der Suche nach geeigneten Lieferanten und Geschäftspartnern.
Strack vom BDI erklärt, dass für deutsche Unternehmen bei der Suche nach zusätzlichen Märkten neben dem Wachstumspotenzial auch die Marktgröße eine Rolle spiele: "Unter diesen Gesichtspunkten sind Japan, Südkorea und die ASEAN-Länder für deutsche Unternehmen besonders attraktiv."
Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen adaptiert.