Welche Strategie verfolgt Israel im Norden Gazas?
16. Oktober 2024Im Verlauf des jüngsten Krieges gegen die Hamas ist die israelische Armee mit Bodentruppen und Luftangriffen mehrfach gegen Dschabalija im Norden des Gazastreifens vorgegangen. Dass dies nun erneut geschieht, ist für die verbliebenen Bewohner des Flüchtlingsviertels eine Katastrophe - seit mehr als einem Jahr leiden sie unter Bombardierungen und Kämpfen zwischen der israelischen Armee und der islamistischen Hamas, die von den USA, der EU und weiteren Staaten als Terrororganisation betrachtet wird.
"Es ist so gefährlich hier, man kann sich nicht mehr bewegen. Es ist riskant und unsicher. Sie hatten uns aufgefordert, zu gehen, aber wir hatten keine Zeit. Plötzlich war das Gebiet umzingelt und unter Beschuss", sagt Mohammed, der seinen Nachnamen nicht nennen will, am Telefon aus Gaza.
Neuer Evakuierungsbefehl
Vor knapp zwei Wochen starteten die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) eine neue Bodenoffensive in Dschabalija und forderten die Bewohner auf, das Gebiet zu verlassen. Die IDF erklärten, die militante Hamas, die den Gazastreifen regiert, versuche, sich im Norden wieder zu etablieren und neu zu formieren.
Beobachter befürchten, dass die jüngste Invasion Teil einer in Israel diskutierten umfassenderen israelischen "Kapitulieren oder Verhungern”-Strategie ("surrender or starve”) ist. Diese zielt darauf ab, die Bewohner des nördlichen Gazastreifens zu vertreiben und das Gebiet abzuriegeln, um Hamas und andere militante Gruppen zu entmachten. "Das israelische Militär scheint den nördlichen Gazastreifen vollständig vom Rest des Gazastreifens abzuschneiden", so das UN-Menschenrechtsbüro in einer Erklärung.
Mohammeds Frau und seine drei Kinder seien zu Besuch bei Verwandten im benachbarten Gaza-Stadt gewesen, erzählt der 41-Jährige, als die Panzer anrückten und die Luftangriffe in Dschabalija intensiver wurden. Zurückkommen war keine Option. "Meine Nachbarn und ich haben uns nun zusammengetan, und wir versuchen, das zu teilen, was an Nahrung und Wasser übrig ist. Ich weiß nicht, wie lange das noch hält", sagt er.
Das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) schätzt, dass in den vergangenen zwei Wochen 50.000 Menschen aus Dschabalija vertrieben wurden, während andere aufgrund der schweren Kämpfe in ihren Häusern festsitzen. Laut OCHA stehen etwa 84 Prozent des Gazastreifens unter "Evakuierungsbefehl" des israelischen Militärs.
Die Lage ist "grauenhaft"
Anfang des Monats veröffentlichte die israelische Armee eine Karte mit neuen Evakuierungsbefehlen für mehrere Gebiete im Norden des Gazastreifens, darunter Beit Hanun, Dschabalija und Beit Lahia. Die Bewohner wurden aufgefordert, sich unverzüglich in Richtung der Salah al-Din Straße zu bewegen, die vom Norden in den Süden führt, und sich in die von der Armee ausgewiesene "humanitäre Zone" im südlichen Gazastreifen zu begeben. Das Gebiet, in dem die meisten Palästinenser in Zelten leben, gilt als völlig überfüllt, es mangelt an Grundversorgung und selbst dort gab es israelische Luftangriffe.
Doch viele sind zu müde, um sich immer wieder vertreiben zu lassen und versuchen eher, in der Nachbarschaft im Norden Schutz zu suchen - ungeachtet der schweren Bombardierungen und Kämpfe.
Die Krankenschwester Aya Tawfik beispielsweise ist mit ihren Geschwistern und ihrem Vater von Dschabalija nach Scheich Radwan geflohen, ein Viertel im Norden von Gaza-Stadt. "Wir wollen nicht in den Süden", schreibt Tawfik in einer Textnachricht an die DW. "Die Bedingungen sind hart. Wir wollen nicht in einem Zelt leben und außerdem gibt es dort ebenfalls Bombenangriffe und Tod." Sie beschreibt die Situation in Dschabalija als "grauenhaft". Nun aber rücken die Kämpfe immer näher an das Viertel heran, in dem die Familie jetzt Unterschlupf gefunden hat.
Die Angst, nicht mehr nach Hause zu können
"Wir sind jetzt in einem Haus in der Nähe des neuen Evakuierungsgebiets. Wir können die Explosionen, die Geräusche von Panzern und Drohnen über uns hören. Wir wissen nicht, ob wir hier bleiben können oder nicht", so Tawfik. Menschen um sie herum seien ständig in Bewegung, um irgendwo einen halbwegs sicheren Ort zu finden.
Auch Nothelfer stoßen an ihre Grenzen. Wegen der schweren Kämpfe können sie nicht jedem Notruf nachgehen. "Es ist ein großes Risiko für die Sanitäter und den Zivilschutz, sich diesen Gebieten zu nähern", sagte Fares Afana, Leiter der Krankenwagendienste im nördlichen Gazastreifen. "Es gibt viele Verletzte und Leichen, die auf den Straßen verstreut sind."
Das UN-Nothilfebüro OCHA schätzt, dass noch mindestens 400.000 Menschen im nördlichen Gazastreifen, einschließlich Gaza-Stadt, leben. Diejenigen, die trotz wiederholter Evakuierungsbefehle des Militärs im Norden Gazas geblieben sind, haben dies aus vielerlei Gründen getan: Einige pflegen ältere und kranke Verwandte, andere wollen ihr Zuhause nicht verlassen oder haben keine Transportmöglichkeit. Viele sagen, es gebe sowieso keinen sicheren Ort in Gaza. Nicht wenige Familien sind mittlerweile getrennt und über ganz Gaza verstreut.
Sowohl Mohammed als auch Aya Tawfik befürchten, dass sie möglicherweise nie wieder nach Hause zurückkehren können, sollten sie das Gebiet jetzt verlassen. Der Norden und Süden Gazas wird seit dem Krieg durch den sogenannten Netzarim-Korridor geteilt, eine neue, vom israelischen Militär kontrollierte Straße, die unterhalb Gaza-Stadt von Osten nach Westen verläuft. Der Korridor mache eine Rückkehr in den Norden fast unmöglich, berichten Bewohner.
Das von der Hamas geführte Innenministerium hatte die Zivilbevölkerung angewiesen, die Aufforderung der israelischen Armee zu ignorieren und nicht in den Süden zu gehen. Das israelische Militär erklärte am Montag, dass Hamas-Kämpfer einige Menschen aktiv an der Flucht hinderten.
Was ist Israels Strategie?
Die jüngsten Militäroffensive und die Evakuierungsbefehle haben unter Palästinensern, Medien und Hilfsorganisationen zu Spekulationen geführt, dass die israelische Regierung im Norden des Gazastreifens schrittweise eine sogenannte "Kapitulation oder Hunger-Strategie” umsetzt, die auch als "Plan des Generals" bekannt ist.
Der Plan wurde von einer Gruppe hochrangiger Offiziere unter der Leitung von Generalmajor a.D. Giora Eiland, einem ehemaligen nationalen Sicherheitsberater, vorgeschlagen. Israelischen Medienberichten zufolge hat das israelische Kabinett kürzlich mehrere Optionen diskutiert, aber es ist unklar, ob eine davon angenommen wurde.
Berichten zufolge zielt die Strategie darauf ab, die Hamas und ihren Anführer Jihia al-Sinwar zur Kapitulation zu zwingen, indem Druck auf die verbleibende Bevölkerung im Norden ausgeübt wird. Israel wirft der Hamas und anderen militanten Gruppen seit langem vor, sich unter der Zivilbevölkerung zu verstecken. Der Plan sieht eine Evakuierung des nördlichen Gazastreifens vor. Jeder, der zurückbleibt, würde als feindlicher Kämpfer betrachtet und das Gebiet würde ohne Zufuhr von lebensnotwendigen Gütern abgeriegelt werden.
Israelische Wiederbesiedlung des Gazastreifens
Die linksliberale israelische Tageszeitung Haaretz berichtete diese Woche, hochrangige Verteidigungsbeamte hätten angedeutet, dass die politische Führung auf die Annexion von Teilen des Gazastreifens dränge. Rechts-konservative Politiker und Minister der Regierung fordern seit langem eine israelische Wiederbesiedlung des Gazastreifens. Ultranationalistische Gruppen haben für die kommenden Tage ein Treffen angekündigt, um die Besiedlung des Gazastreifens zu "trainieren". Premierminister Benjamin Netanjahu hat jedoch wiederholt jegliche Pläne dementiert, israelische Siedler in den Gazastreifen zu lassen.
Es ist unklar, ob das Militär bei seiner aktuellen Invasion Komponenten des Plans übernommen hat. Die Situation im Norden Gazas jedoch sei alarmierend, so die Vereinten Nationen. "Seit dem 1. Oktober haben die israelischen Behörden den nördlichen Gazastreifen zunehmend von lebenswichtigen Versorgungsgütern abgeschnitten", sagte Muhannad Hadi, Koordinator für humanitäre Hilfe in den besetzten palästinensischen Gebieten, in einer Erklärung am Sonntag. Die Militäroffensive habe Bäckereien, medizinische Einrichtungen und Notunterkünfte zur Schließung gezwungen, während "die Krankenhäuser einen Zustrom von Verletzten zu verzeichnen haben".
Für Aya Tawfik zählt momentan nur eines: Überleben. "Diese Invasion ist härter als die letzte”, sagte Tawfik. "Wir haben einfach keine Energie mehr. Wir sind völlig erschöpft vom ständigen Kampf, am Leben zu bleiben und bei allem nicht den Verstand zu verlieren."