Wieso wählen junge Ostdeutsche AfD?
11. Juni 2021Ja, die Wahl in Sachsen-Anhalt war in erster Linie ein Erfolg der CDU. Sie konnte kräftig zulegen und mit mehr als 16 Prozentpunkten Vorsprung vor der Alternative für Deutschland (AfD) den Wahlsieg verbuchen.
Nach Auszählung aller Stimmen legten Wahlanalysten aber noch eine weitere bemerkenswerte Statistik vor: Bei den unter 30-Jährigen hatte die AfD den höchsten Stimmenanteil. Jeder fünfte Wähler, der nach 1991 geboren wurde, machte sein Kreuzchen bei der AfD. Wie kommt das?
Kerstin Völkl, Politkwissenschaftlerin aus Halle an der Saale, hat die Wähleransprache der AfD gerade gegenüber jungen Menschen beobachtet: "Die AfD hat versucht, sich so ein Art 'Kümmerer-Image,' zuzulegen, dass sie sich den Problemen der jungen Menschen annähern."
AfD umwirbt junge Wähler
Die AfD war auch die einzige Partei, die sich die Mühe gemacht hat, Erstwählern in der Landeshauptstadt Magdeburg einen persönlichen Brief vor der Wahl zu schicken. "Ja, wir haben das gemacht, und man sieht ja auch, dass es einen gewissen Erfolg hatte", sagt Jan Wenzel Schmidt mit einem Lächeln im Gesicht, während er in seinem Büro in Magdeburg sitzt. Er ist Vorsitzender der AfD-Jugendorganisation "Junge Alternative", die mit ihren gerade einmal 160 Mitgliedern einen lauten Wahlkampf auf den Straßen Magdeburgs hingelegt hat.
Schmidt repräsentiert eine ambitionierte neue Generation der AfD. Der 29-Jährige macht sich im Herbst Hoffnungen auf ein Mandat im Deutschen Bundestag. Das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt hat ihn gefreut. Er ist überzeugt, dass Jugendliche durch die Coronavirus-Politik genervt waren - viele glaubten, dass Virus könnte ihnen als jungen Menschen wenig anhaben.
Jugendangebote nach und nach abgebaut
Doch nicht nur das Virus war ein Thema, das junge Leute umtrieb, dazu kamen langfristige Probleme: die fehlende Infrastruktur in vielen Teilen des Bundeslandes, besonders beim öffentlichen Personen-Nahverkehr, und die fehlende "soziale" Infrastruktur, also der Mangel an Jugendclubs etc., die früher einen wichtigen Teil der ostdeutschen Jugendkultur ausgemacht hatten.
"Grundsätzlich ist die jüngere Generation hier benachteiligt, weil viele Investitionen, die getroffen werden, ja nicht mehr die Jugend erreichen", so Jan Wenzel Schmidt. "Ich sehe das ja selbst: Als ich in den neunziger Jahren hier in Magdeburg aufgewachsen bin, da war es noch so, dass es viele Jugendklubs gab, und viele Anlaufpunkte auch im ländlichen Raum. Die sind alle verschwunden."
Jung und enttäuscht
Johannes Walter vom Kinder- und Jugendring, dem Dachverband für Jugendarbeit in Sachsen-Anhalt, ist zwar ein politischer Gegner der AfD - in einem stimmt er mit Wenzel aber überein. "Die Förderung für örtliche Jugendarbeit ist in Sachsen-Anhalt 2014 massiv gekürzt und seitdem nicht nennenswert erhöht worden. Aber parallel erhöhen sich Löhne, laufende Kosten, und es werden sukzessive weniger Jugendklubs", sagt er.
Beobachter glauben, dass viele junge Leute ihre ganze Enttäuschung mit in die Wahlentscheidung gepackt haben. Die Kampagne der rechtspopulistischen Partei zielte genau darauf ab, sagt David Begrich von der Anti-Rassismus-Kampagne "Miteinander": "Es gab ein Plakat, auf dem rote Pfeile waren. Die zeigten auf die Wahlplakate oben drüber, und es stand nur drauf: 'Ihr hattet 30 Jahre Zeit'. Das ist keine eigenständige politische Programmatik, sondern das ist die Ansprache einer Emotion", erklärt er.
Generation auf Identitätssuche
Diese Emotion - es ist reine Frustration. Und die sitzt offenbar tief, wenn man nichts zu tun hat, man sich kein Auto leisten kann und im Ort nur zweimal täglich ein Bus fährt. Arme, frustrierte junge Menschen gibt es allerdings auch im Westen – wieso wählen dort nicht genau so viele die AfD? David Begrich, der mit der Initiative "Miteinander" auch oft Workshops in ganz Deutschland veranstaltet, hat seine eigene Erklärung: "Ich erlebe Jugendliche aus dem Westen als sehr viel sprachfähiger, kommunikativer und selbstsicherer im Auftreten gegenüber Fremden."
Er glaubt, dass es auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine starke ostdeutsche Identität gibt, die sich junge Leute zu eigen machen. Gerade solche, die zum Studieren oder zur Ausbildung in den Westen und danach wieder zurückgekommen sind. "Wir erleben junge Erwachsene in unserer Arbeit als Menschen, die sehr stark auf der Suche nach Identität sind. Was wir in letzten Jahren verstärkt wahrnehmen, ist, dass sich Jugendliche und junge Erwachsene wieder dem Thema ostdeutsche Identität zuwenden."
Das kann David Begrich an einem praktischen Beispiel erklären - der eigenen Tochter: "Sie ist 18 Jahre alt, und sie nimmt sich, wenn sie es mit westdeutschen Gleichaltrigen zu tun hat, als Ostdeutsche wahr."
Der Frust der "Übriggebliebenen"
Auch die demografische Entwicklung spielt beim mangelnden Selbstbewusstsein und damit der Beliebtheit der AfD unter jungen Ostdeutschen eine Rolle. Sachsen-Anhalt hat ein Viertel seiner Bevölkerung seit 1990 verloren. Viele gut ausgebildete, junge Menschen sind weggezogen, darunter viele Frauen.
Kerstin Völkl gibt das zu denken, sie fragt sich: "Wer ist denn übrig geblieben? Junge Männer mit einem niedrigeren Bildungsniveau. Und das nehmen diese auch wahr, dass sie auf der Verliererseite stehen. Und dann wird man eben anfälliger für populistische und durchaus autoritäre Akzente".
Ein Aspekt stört bislang offenbar wenige Wähler: die aufstrebenden rechts-radikalen Strömungen innerhalb der AfD. Obwohl zahlreiche Verbindungen zwischen dem AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt und Neo-Nazi-Organisationen von Journalisten längst offen gelegt wurden und teils auch schon von staatlichen Stellen untersucht werden, hat das offenbar viele junge Wähler nicht von ihrem Votum abgehalten.
Eine Erklärung bietet David Begrich: "Erstmal muss man sich klar machen, dass Rassismus und Rechtsextremismus nicht so tabuisiert sind wie im Westen. Hier gibt es ein anderes Verhältnis zur Meinungsfreiheit. Mir sagen Schüler in Schulprojekten ganz oft: 'Ich finde, Adolf Hitler war ein großartiger Politiker. Er hat die Autobahnen gebaut und er hat viele Menschen in Arbeit gebracht. Und das ist meine Meinung, und wir leben in einem freien Land und diese Meinung kann ich sagen'."
Freiheit zur rechten Meinung?
Was soll man tun, wenn einem ein Teenager so etwas sagt? "Ich versuche dann deutlich zu machen, dass ich Adolf Hitler für einen Verbrecher halte", so Begrich. "Man kann nur versuchen, diese Positionen mit Fakten zu kontrastieren, weil wir zu oft die Erfahrung machen, dass rechtsextremen Auffassungen nicht widersprochen wird. Da wird einfach gesagt: 'Na ja, das ist halt auch nur deine Meinung'", so Begrich weiter.
Kerstin Völkl von der Universität Halle sieht noch einen weiteren Aspekt: Eine geringere Sensibilisierung junger Ostdeutscher sowohl für die Demokratie selbst als auch für die Relevanz einer funktionierenden Zivilgesellschaft: "Und dann wird man anfälliger und man erkennt eben - vermutlich - nicht, welche Gefahr von rechtsextremistischen Tendenzen tatsächlich ausgeht", so Völkl.
Aus dem Englischen von Friedel Taube.