Gratwanderung im Kongo
13. Januar 2015In einem Transitlager des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) im Ostkongo sitzen rund 40 Frauen und Kinder. Ein Mitarbeiter registriert ihre Namen, nimmt Fingerabdrücke und macht Fotos. Die 31-jährige Ruanderin Godanze Nyasafari sitzt mit ihren zwei Kleinkindern im Arm und wartet, bis sie an der Reihe ist.
Sie erzählt, dass sie seit über 20 Jahren als Flüchtling im Ostkongo lebt. Ursprünglich stammt sie aus Ruanda und gehört der Hutu-Ethnie an. Ihr Mann kämpft für die ruandische Hutu-Miliz FDLR ("Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas"), die sich im Ostkongo formiert hat, um gegen die Tutsi-Regierung in ihrer Heimat zu kämpfen. Die UN hatte der Rebellengruppe eine Frist gesetzt, bis wann sie kapitulieren und die Waffen abgeben sollte - doch die FDLR ließ die Frist Anfang Januar verstreichen. UN-Truppen halten sich nun bereit, um die Gruppe zu zerschlagen.
Nyasafari erzählt, wie sie im Radio von den Plänen gehört hat. "Das hat uns große Angst gemacht und mein Mann hat gesagt, ich soll die Kinder nehmen und bei der UN Schutz suchen."
Nyasafaris Baby weint leise. Es ist hungrig. Nyasafari wiegt es hin und her und stillt es. Neben den beiden hockt Nyasafaris fünfjähriger Sohn. Er wirkt erschöpft und ist schmutzig.
Vor der Flucht ins UN-Camp lebte die Familie in Binza, einer Siedlung rund 120 Kilometer nördlich der Provinzhauptstadt Goma. Dort hatten die FDLR-Truppen ihres Mannes fünf Hügel besetzt, um die Handelsstraße nach Uganda zu überwachen und von den Lastwagen Wegzoll einzutreiben.
Als die UN die Militäroffensive ankündigte, erzählt Nyasafari, habe ihr Mann Befehle von seinen Kommandeuren erhalten. Sie verließen die Hügel, um sich in den Dschungel zu retten. "Ich bin mit den Kindern in eine andere Richtung gegangen. Wir sind lange gelaufen, um eine UN-Station zu finden", so Nyasafari. "Jetzt bin ich glücklich, nach Ruanda zurückzukehren, um meine Mutter wiederzufinden."
Mit Drohnen und Bomben gegen die Rebellen
Die FDLR zählt zu den brutalsten Rebellengruppen im Kongo. Sie formierte sich aus Soldaten und Offizieren der ehemaligen ruandischen Armee, die 1994 in Ruanda am Völkermord an der Tutsi-Minderheit mitgewirkt hat. Über 800.000 Menschen wurden in nur hundert Tagen brutal ermordet. Dann eroberte die Tutsi-Befreiungsarmee unter dem heutigen Präsidenten Ruandas, Paul Kagame, das Land. Viele Hutu flohen in den Ostkongo - aus Angst vor Rache. Mit ihnen flohen auch Nyasafari und ihr späterer Mann. Seitdem lebt sie als Flüchtling im Kongo. Ihr Mann schloss sich der FDLR an. Die ruandische Hutu- Miliz ist bis heute die stärkste Rebellengruppe im Ostkongo. Sie bestand einst aus 20.000 Kämpfern. Heute sind es nur noch rund 1300.
Doch noch immer ist die Rebellengruppe das Hauptproblem für zahlreiche Konflikte in der Region. Deswegen hat die UN beschlossen, gegen die Miliz vorzugehen, sagt Martin Kobler, der Leiter der UN-Friedensmission für die Stabilisierung in der Demokratischen Republik Kongo (MONUSCO). "Wir haben das Mandat des UN-Sicherheitsrates, offensive Operationen durchzuführen, um die Rebellengruppen zu zerschlagen. Da sprechen wir jetzt vor allem von der FDLR", so Kobler.
"Ja, das sind offensive Militäroperationen. Aber es gibt auch Regeln und es ist klar, dass wir den Effekt auf die Zivilbevölkerung so weit wie möglich minimieren müssen." Mithilfe von Drohnen könnten die UN-Truppen sehen, ob sich Flüchtlinge in der Nähe von FDLR-Kämpfern aufhielten, so der UN-Chef im Kongo.
Warnbotschaften an die Flüchtlinge
Die FDLR ist berüchtigt dafür, Familienangehörige als menschliche Schutzschilde zu verwenden, wenn ihnen Angriffe drohen. Daran scheiterten in der Vergangenheit verschiedene Versuche, die Miliz zu bekämpfen. Bereits 2009 haben die kongolesische und ruandische Armee versucht, gegen die FDLR vorzugehen. Dabei wurden unzählige ruandische Flüchtlinge getötet. Die FDLR wiederum rächte sich mit Massakern an kongolesischen Zivilisten.
Um Angriffe auf Zivilisten diesmal zu vermeiden, bemühen sich die UN-Hilfsagenturen, die Flüchtlinge und die kongolesische Bevölkerung rechtzeitig zu warnen, damit sie fliehen können. Die UN schätzt, dass in den nächsten drei Monaten eine halbe Million Menschen vertrieben werden.
"Wir Hilfsagenturen haben in regelmäßigen Treffen Pläne ausgearbeitet, wie wir Zivilisten schützen können. Die UN und die kongolesische Armee sind sich bewusst, dass es Flüchtlinge innerhalb der FDLR gibt", sagt Boniface Kinyanjui vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Es seien Sammelpunkte eingerichtet worden, wo sich die Flüchtlinge melden können. Im Kongo leben derzeit schätzungsweise 200.000 ruandische Flüchtlinge, rund 20.000 davon sind Angehörige der FDLR und leben mit den Rebellen - so wie Nyasafari und ihre Kinder.
Um diese Zivilisten zu retten, hat das Hilfswerk Geld bereitgestellt, um Botschaften über alle Radiosender auszustrahlen, sagt Kinyanjui. "Wir arbeiten auch mit der Zivilgesellschaft und den Kirchen zusammen, um zu kommunizieren, dass wir für die Flüchtlinge da sind. Wir sind bereit, sie nach Hause zu bringen, wo sie sicher sind und ein gutes Leben haben können." Für Kämpfer, die aussteigen wollen, gibt es ebenfalls Hilfe - die Radiobotschaften informieren über spezielle Demobilisierungsprogramme inklusive finanziellem Startpaket. Dieses Angebot macht es unwahrscheinlich, dass sich Kämpfer unter die Flüchtlinge mischen.
Auf ein gutes Leben hofft nach 20 Jahren im Kongo jetzt auch die Ruanderin Nyasafari. Sie wünscht sich, dass sie ihre zwei Kinder in die Schule schicken kann. Doch zuerst muss sie in ihrem Heimatdorf in Ruanda ihre Mutter, Geschwister und Tanten wiederfinden. Nachdem die UNHCR-Mitarbeiter die Registrierung beendet haben, steigen die Frauen auf einen Lastwagen und werden zur Grenze gebracht. Mit jeder Frau und jedem Kind, das die FDLR-Rebellen verlässt, bevor die erste Bombe fällt, verringert sich das Risiko, dass Zivilisten zu Schaden kommen. Doch ausgeschlossen ist es nicht.