Wie Experten die Drohnenangriffe auf Moskau einschätzen
3. August 2023Innerhalb kurzer Zeit sind Hochhäuser der Moskau City, einem Geschäftsviertel in der russischen Hauptstadt, zum Ziel von Drohnenangriffen geworden. In der Nacht zum 30. Juli stürzten Drohnen in zwei Gebäude, in denen sich Büros des Ministeriums für Industrie und Handel, des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und des Ministeriums für Kommunikation befinden. Und in der Nacht zum 1. August traf eine Drohne wieder die Fassade eines der Türme in der Moskau City. Laut Bürgermeister Sergej Sobjanin gab es, wie in der Nacht zum 30. Juli, auf Höhe der 21. Etage einen Einschlag. Zerstört wurden 150 Quadratmeter Verglasung.
Wie Kiew auf die Drohnen in Moskau reagiert
Die russische staatliche Nachrichtenagentur TASS berichtete unter Berufung auf eine hochrangige Quelle, dass die Drohnen, die in der Nacht zum 1. August einen Wolkenkratzer der Moskau City trafen, aus der Ukraine gekommen seien. Kiew hat allerdings keine Verantwortung für den Drohnenangriff in Moskau übernommen. Der Berater im ukrainischen Präsidialamt, Mychajlo Podoljak, erklärte lediglich auf Twitter: "Moskau gewöhnt sich nun beschleunigt an den umfassenden Krieg, der bald endgültig auf das Territorium des 'Urhebers des Krieges' übergehen wird, um alle seine Schulden von ihnen einzutreiben ... Alles, was als nächstes in Russland passieren wird, ist ein objektiver historischer Prozess. Es wird mehr unidentifizierte Drohnen, mehr Zerstörung, mehr Konflikte zwischen Bürgern und mehr Krieg geben."
Das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation spricht hingegen von "Angriffen des Kiewer Regimes". Einige der Drohnen seien angeblich mit "Mitteln der elektronischen Kriegführung" ausgeschaltet worden, worauf sie auf Gebäude gestürzt seien. Weitere Drohnen seien von der Luftverteidigung noch vor Moskau abgeschossen worden.
"Neutralisierung von Raketen durch Gebäude"
Sergej Migdal, ehemaliger israelischer Polizist und heutiger Sicherheitsexperte, sieht die Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums kritisch. "Israel kennt solche Berichte der syrischen Luftverteidigung über den 'Abschuss aller Raketen' nur zu gut, während Syrer brennende Lagerhäuser und Flughäfen filmen. Wir nennen das 'Neutralisierung israelischer Raketen durch Gebäude'", sagt Migdal ironisch.
Ihm zufolge hat die russische Armee "das Problem des Abfangens von Drohnen und ukrainischen Raketen in Gebieten näher an der ukrainischen Grenze oder an der Kontaktlinie immer noch nicht gelöst". Die gesamte Last der russischen Luftverteidigung würden Nahkampfsysteme tragen, in diesem Fall Abwehrraketen vom Typ Panzir-S1, die wichtige zivile und militärische Infrastruktur schützen sollen, erläutert der Experte. Ihm zufolge ist das System sehr gut. Doch es löse erst in letzter Sekunde vor dem Einschlag ins Ziel aus. "Das ist wie Lotto. Kein System bietet hundertprozentigen Schutz. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Panzir-System eine Drohne nicht abfängt, ist sehr hoch. Sie liegt zum Teil bei mindestens 50 Prozent", so Migdal.
Die Mitteilung des russischen Verteidigungsministeriums, wonach Drohnen ausgeschaltet worden seien, sieht er noch aus einem anderen Grund skeptisch. Seiner Meinung nach macht es keinen Sinn, Drohnen auszuschalten, die den äußeren Verteidigungsring passiert haben und sich schon über der Stadt befinden. "Dann ist es besser, Drohnen abzuschießen. Beim Abschuss besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Sprengkopf in der Luft explodiert und die Fragmente auf den Boden oder Gebäude fallen. Das ist unschön, aber besser, als wenn eine Drohne von ihrem Kurs abkommt und ein anderes Gebäude trifft, in dem vielleicht Menschen sind und diese sterben oder verletzt werden", sagt der Experte.
Mittel der elektronischen Kampfführung könne man in Wüstengebieten einsetzen, so Migdal, aber "Drohnen über einer Stadt muss man brutal abschießen, solange der Sprengkopf noch kein Gebäude erreicht hat." Er ist sich sicher, dass der Wolkenkratzer der Moskau City das Ziel der Drohnen war. Es sei "reines Glück" gewesen, dass bei dem heftigen Einschlag niemand verletzt worden sei.
Schweigen als Strategie des Kremls
Der israelische Experte macht ferner darauf aufmerksam, dass die russischen Medien den ersten Drohnenangriff auf die Moskau City praktisch ignoriert haben. Die Hauptnachricht am Morgen des 30. Juli sei die Parade zum Tag der Marine in St. Petersburg unter Teilnahme von Präsident Wladimir Putin gewesen. Das Verteidigungsministerium und die Führung Russlands, so Migdal, "versuchen, eine gute Miene zu einem bösen Spiel zu machen".
Dies sei eine "langjährige Strategie des Kremls", schon seit Anfang der 2000er Jahre, um die Kontrolle über die Medien zu halten, betont der Politologe Abbas Galjamow, ehemaliger Redenschreiber Putins und heute freier Analyst und Berater. Ihr Kern bestehe darin, zu ignorieren, was den Behörden missfällt. "Man spielt das Geschehen herunter und vermittelt, dass es sich nicht um ein wichtiges Ereignis, sondern um eine nebensächliche Geschichte handelt, die keine Aufmerksamkeit verdient. Man spricht nur dann über ein Ereignis, wenn es einen massiven Charakter annimmt und einfach nicht mehr verschwiegen werden kann."
Galjamow bezeichnet dieses Verhalten als "Strategie der Eindämmung, nicht der Expansion". Es ziele auf die regierungstreuen Bevölkerungsteile ab. "Wenn jeden Tag schlechte Nachrichten gemeldet werden, fassen sich die Menschen an den Kopf und sagen: 'Bei uns ist alles schlecht.' Dann gehen sie für die Staatsmacht gänzlich verloren. Deshalb verhält man sich so, als wäre nichts passiert", sagt der Politologe. Doch er hält diese Strategie für zum Scheitern verurteilt. "Bei den Menschen entsteht eine Kluft zwischen Realität und Propagandadiskurs. Dann suchen sie nach alternativen Informationsquellen und das Vertrauen in die Propaganda sinkt, wodurch die Zahl loyaler Bürger abnimmt", so Galjamow.
"Angriffe auf Russland werden zunehmen"
Der zweite Drohnenangriff auf die Moskau City zwang jedoch den Kreml, sein übliches Schweigen zu brechen. Am 31. Juli bezeichnete Dmitrij Peskow, Sprecher des russischen Präsidenten, die Einschläge als "einen Akt der Verzweiflung inmitten des Versagens des Kiewer Regimes" und beruhigte, vorerst werde die Terrorgefahr für Moskau und die Region nicht höher eingestuft. Doch schon am 1. August äußerte sich ein Kreml-Sprecher in einem Gespräch mit Journalisten zu dem erneuten Angriff: "Es besteht tatsächlich eine Gefahr, sie ist offensichtlich, und es werden Maßnahmen ergriffen." Und die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, verglich im russischen Fernsehen die Angriffe auf die Moskau City mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten.
Der israelische Sicherheitsexperte Sergej Migdal schließt nicht aus, dass die Ukraine hinter den Drohnenangriffen auf Moskau steckt. Er ist sich sicher, dass die Angriffe auf Russland zunehmen werden. "Noch hat die Ukraine nicht so viele Möglichkeiten. Aber dies ist ganz klar ein Ziel der Ukrainer, an dem mittlerweile viele Institute und Industrieunternehmen arbeiten", so der Experte. Die Ukrainer würden - sogar unter Bedingungen des russischen Beschusses - versuchen, die Kapazitäten der Rüstungsindustrie, die in den letzten 30 Jahren verloren gegangen seien, wiederherzustellen und zu steigern.
"All dies müssen sie im Halbverborgenen tun und die Produktion ständig verlegen. Ich weiß, dass es Ingenieure und Entwickler gibt, die nicht in Instituten arbeiten, die dem russischen Geheimdienst bekannt sind, sondern von Privatwohnungen aus, um nicht unter Raketenbeschuss zu geraten", sagt Migdal und fügt hinzu: "Die Ukrainer wollen der russischen Bevölkerung maximal klarmachen, dass die Unterstützung Putins und des russischen Krieges ihren Preis hat."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk