Ukraine: Wie weit geht das Recht auf Selbstverteidigung?
Veröffentlicht 2. August 2023Zuletzt aktualisiert 28. August 2023Während die russische Armee weiter mit Raketen und Drohnen massiv und unablässig auch zivile Ziele in der Ukraine angreift, gibt es in Deutschland angesichts der anhaltenden Drohnenangriffe auf Moskau eine Debatte darüber, ob und wie die Ukraine Ziele in Russland bekämpfen darf oder sollte. Anlass dafür war die bereits im Juli gemachte Äußerung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der Krieg kehre allmählich nach Russland zurück.
In der Nacht zu Montag (28.8.) hat nach Angaben russischer Behörden die russische Flugabwehr erneut eine Drohne in der Nähe von Moskau und zwei weitere in der Region Brjansk an der Grenze zur Ukraine zerstört. Es habe keine Opfer oder Schäden gegeben, Rettungskräfte seien vor Ort im Einsatz.
Bereits am 23. August hatte die russische Luftabwehr nach eigenen Angaben ukrainische Drohnenangriffe über der Hauptstadt abgewehrt, genauso wie am 4. Juli dieses Jahres.
Der ukrainische Präsident Selenskyj hatte Anfang Juli erklärt, Angriffe auf militärische Ziele und symbolische Zentren in Russland seien ein "unvermeidlicher, natürlicher und absolut fairer Prozess".
Darf die Ukraine Ziele auf russischem Territorium angreifen?
Nach dem Kriegsvölkerrecht darf sich der angegriffene Staat verteidigen. "Unter den gegebenen Umständen, ein russischer Angriff über die Grenze hinweg, hat die Ukraine das Recht zur Selbstverteidigung", erläutert der US-amerikanische Jura-Professor und Ex-Diplomat David Scheffer, der am Sitz der Arizona State University in Washington, D.C., lehrt und zur einflussreichen Denkfabrik Council on Foreign Relations gehört.
"Dieses Recht schließt militärische Schläge auf russischem Gebiet zur Abschreckung, Verhinderung oder Aufhalten von aggressiven Akten mit ein." Diese Angriffe können auch tief im Hinterland stattfinden und sind nicht auf die unmittelbare Front beschränkt.
Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind nach dem "Völkerrecht im Krieg" nicht zulässig. "Wenn Drohnen-Angriffe zivile Ziele in Moskau treffen sollten, wäre das illegal", so der Rechtsexperte David Scheffer. "Das müsste dann eines Tages irgendwie vor einem Gericht verhandelt werden." Allerdings lässt sich im Moment weder verifizieren, wer diese Drohnen schickt, noch welche Ziele sie treffen sollten oder getroffen haben.
Zulässig sind Angriffe auf russisch besetzte Gebiete wie die Halbinsel Krim, die rechtlich zur Ukraine gehört. Ebenso vom Völkerrecht gedeckt sind Angriffe auf die russische Marine im Schwarzen Meer, nicht aber auf zivile Handelsschiffe.
Mit welchen Waffen darf die Ukraine Ziele in Russland angreifen?
Im Prinzip ist der Gebrauch aller geeigneten Waffen, Drohnen, Raketen, Flugzeuge und Marschflugkörper zulässig. Es gibt allerdings die politische Vereinbarungen zwischen der ukrainischen Führung und den verbündeten Staaten, keine Waffen aus westlicher Produktion für Angriffe tief im russischen Hinterland einzusetzen.
Die NATO-Mitglieder fürchten, dass Russland den Einsatz von Waffen aus westlicher Produktion als Vorwand für eine weitere Eskalation des Krieges nutzen könnte. Der Generalstabschef der US-Streitkräfte, Mark Milley, sagte dazu im Mai, es gebe die klare Abmachung, dass Waffen aus den USA nicht auf russischem Gebiet eingesetzt werden.
"Dies ist ein ukrainischer Krieg. Es ist kein Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Russland. Es ist kein Krieg zwischen der NATO und Russland. Dies ist ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Wir unterstützen und rüsten aus, helfen, beraten und bilden aus. Aber dies ist kein direkter Konflikt mit Russland."
Wie weit gehen die Beschränkungen für den Einsatz von westlichen Waffen?
Die rote Linie, die die USA gezogen haben, wird von anderen Staaten anderes interpretiert. Großbritannien und Frankreich sind bereit, Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern, die am Ende auch tief in russisches Gebiet eindringen könnten, um Nachschubbasen und Kasernen des russischen Militärs anzugreifen. "Wir haben entschieden, neue Raketen zu liefern, die der Ukraine Schläge in der Tiefe erlauben", sagte der französische Präsident Emmanuel Macron beim NATO-Gipfel Anfang Juli.
Die Reichweite der Artillerie, die die Ukraine mittlerweile aus westlichen Staaten erhält, ist nach und nach größer geworden. Die weit reichende Artillerie wird gebraucht, um Stellungen und Flugplätze der russischen Armee, von denen aus Raketen abgeschossen werden, zu bekämpfen.
Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, fordert auch von Berlin die Lieferung von Marschflugkörpern. Die sicherheitspolitsche Expertin von Bündnis/Die Grünen im Bundestag, Agnieszka Brugger, zeigte sich im Deutschlandfunk nicht abgeneigt. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) lehnt das bislang ab.
Werden Staaten, die Waffen liefern, zur "Kriegspartei"?
Im Kriegsvölkerrecht ist nicht zweifelsfrei klar, wo die Schwelle liegt, ab der ein Staat Kriegspartei wird. Viele Experten gehen davon aus, dass die bloße Lieferung von Waffen und Munition lediglich die Hilfe bei der Selbstverteidigung der Ukraine darstellt. Dadurch treten diese Staaten nicht aktiv in den Krieg ein.
Umstritten ist die Frage, ob die Ausbildung von ukrainischen Soldaten an Waffen bereits eine aktive Teilnahme am Kriegsgeschehen darstellt. Sobald die waffenliefernden Staaten direkten Einfluss auf den Einsatz von weit reichenden Waffen und die Auswahl von Zielen in Russland hätten, wären sie nach Auffassung vieler Rechtsexperten dabei, aktiv das "kollektive Recht auf Selbstverteidigung" zusammen mit der Ukraine auszuüben.
Das gleiche gilt für den Fall, dass die USA, Polen oder irgendein anderer Staat eigene Truppen in das Kampfgebiet entsenden würde. Auch ein Eingreifen der Luftwaffe aus westlichen Staaten würde als "kollektive Selbstverteidigung" und damit als Kriegsbeteiligung gewertet.
Welche Rolle spielt es, ob die westliche Staaten "Kriegspartei" sind?
Russland betrachtet viele NATO-Staaten, die Waffen an die Ukraine liefern, schon jetzt als Kriegsteilnehmer. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte schon vor mehr als einem Jahr in Moskau über die Unterstützer der Ukraine: "Es sind Feindstaaten. Weil das, was sie tun, Krieg ist."
Russische Politiker drohen immer wieder damit, dass Russland gezwungen sein könnte, Atomwaffen einzusetzen, um sich gegen den Westen zu wehren. Die russische Führung könnte weiter eskalieren und die Waffenlieferanten und Unterstützer der Ukraine angreifen. Das wäre eine Ausweitung des völkerrechtlich illegalen und von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verurteilten Angriffskrieges gegen die Ukraine. Dieses Szenario will der Westen unbedingt vermeiden.
Wie bewertet die Europäische Union die Entwicklung?
Auf eine entsprechende Frage der DW antwortete die Sprecherin der EU-Kommission, Nabila Massrali, man wisse nicht, ob die Drohnen, die bei Moskau abgeschossen wurden, tatsächlich aus der Ukraine stammten. Russlands Angaben seien nicht glaubwürdig.
"Russland sollte diese Vorfälle nicht als einen weiteren Grund für die Eskalation seines illegalen und barbarischen Angriffs auf die Ukraine und ihr Volk nutzen", sagte Nabila Massrali in Brüssel. Es sei klar, dass die Ukraine jedes Recht auf Selbstverteidigung habe. Es sei vereinbart, dass Waffen, die über die EU-Kommission finanziert werden, einzig und allein für Selbstverteidigung eingesetzt werden sollten.
Dieser Artikel wurde am 28. August aktualisiert.