Darf Russland Handelsschiffe im Schwarzen Meer angreifen?
22. Juli 2023Nach dem Ausstieg Russlands aus dem "Getreidedeal" hatte das Verteidigungsministerium in Moskau erklärt, ab dem 20. Juli werde man alle Schiffe, die über das Schwarze Meer zu ukrainischen Häfen fahren, als potenzielle Träger militärischer Fracht betrachten. Die Länder, unter deren Flaggen die Schiffe laufen, werde man dann als solche einstufen, die auf der Seite Kiews "in den Ukraine-Konflikt verwickelt" seien.
Sind Angriffe auf Handelsschiffe aus völkerrechtlicher Sicht erlaubt und was kann die faktische Blockade ukrainischer Häfen durch Russland zur Folge haben? Die DW hat darüber mit Experten gesprochen.
Eine Kriegspartei darf nicht einseitig Einzelpersonen oder Organisationen zu legitimen Kriegszielen erklären. Das betont Johannes Peters, Sicherheitsexperte an der Universität Kiel, und fügt hinzu: "Wenn Russland Schiffe als legitime Ziele betrachtet, dann sind sie noch lange keine legitimen Ziele. Ein Angriff Russlands auf Handelsschiffe, die sich in internationaler Fahrt befinden, wäre nicht vom Völkerrecht, auch nicht vom Kriegsvölkerrecht gedeckt." Allein der Verdacht, dass ein ziviles Schiff militärische Fracht befördern könnte, würde einen Angriff auf ein Schiff mit Marschflugkörpern oder Ähnlichem nicht rechtfertigen.
Was ist Kriegsparteien erlaubt?
Wolff Heintschel von Heinegg, Professor für Völkerrecht an der Europa-Universität Viadrina, stellt klar, dass eine kriegführende Seite nach dem Recht der Seekriegsführung alle Schiffe, die feindliches Gebiet ansteuern, auf jeden Fall durchsuchen dürfe. Würde dabei so genannte Schmuggelware gefunden, müsse dies der Welt gemeldet werden. Eine Liste von Gütern, die nicht transportiert werden dürfen, müsse allerdings vorab veröffentlicht werden.
"Wenn ein Schiff aufgesucht wird, bei dem es sich nicht um ein feindliches Handelsschiff, sondern um ein neutrales Handelsschiff handelt, und sich herausstellt, dass es solche Gegenstände an Bord hat, wäre es dem Kriegführenden gestattet, das Schiff zu kapern, aber nicht anzugreifen. Ein Angriff auf das Schiff wäre nur dann zulässig, wenn das Schiff dazu genutzt würde, einen wirksamen Beitrag zur militärischen Aktion des Feindes zu leisten. Zum Beispiel ein Schiff, das nachrichtendienstliche Informationen von militärischem Wert weitergibt oder Minen legt oder Ähnliches. Dann wäre das Schiff anfällig für Angriffe. Die bloße Tatsache, dass es im Schwarzen Meer unterwegs ist, bedeutet nicht, dass es als rechtmäßiges Ziel in Frage kommt", erläutert der Experte.
Ihm zufolge gilt dies auch in Bezug auf die Erklärung des ukrainischen Verteidigungsministeriums vom 20. Juli, wonach alle Schiffe, die russische Häfen im Schwarzen Meer sowie Häfen in den annektierten Gebieten anlaufen, ab dem 21. Juli von Kiew als Transportschiffe für Militärgüter betrachtet würden. Heintschel von Heinegg betont, "wenn ein Schiff tatsächlich militärische Ausrüstung für den Feind transportiert, kann es zum Angriffsobjekt werden". Dass es solche Ausrüstung transportiert, müsse jedoch auf Fakten beruhen und nicht auf Vermutungen.
Sollte Russland jedoch vorab keine Liste verbotener Fracht veröffentlichen, dann wird es laut dem Experten auch keine für den Transport verbotenen Gegenstände geben. Schiffe in Richtung Ukraine dürften dann auch nicht von Russland festgesetzt werden. Allerdings könnten Schiffe angehalten und durchsucht werden. "Ein Team geht an Bord, schaut sich an, was auf dem Schiff ist, und wenn es nicht an Aktivitäten auf Seiten der Ukraine beteiligt ist, dann muss es freigelassen werden", sagt Heintschel von Heinegg. Was passieren würde, sollte sich Russland ein Schiff Richtung Ukraine wirklich vornehmen, dazu wagt der Experte noch keine Prognose.
Welche Ziele verfolgt Russland?
Laut Johannes Peters will Russland mit der Gefährdung der Sicherheit des internationalen Handels nicht in erster Linie die Ukraine schwächen, sondern vielmehr den Westen durch den Einsatz von Hunger als Waffe zu einer Lockerung der Sanktionen bewegen. "Da genügt, so das Kalkül Russlands, die Androhung von Maßnahmen, damit Reedereien, aber auch Schiffsversicherer dieses Risiko nicht mehr eingehen wollen und es somit der Ukraine unmöglich wird, weiterhin Getreide zu exportieren", sagt der Experte und fügt hinzu: "Russland möchte den Westen in Zugzwang bringen, die vom Westen verhängten Sanktionen gegen Russland zu lockern." Und Moskau habe klare Forderungen: Die Wiederaufnahme der russischen Agrarbank "Rosselchosbank" ins SWIFT-System und ein leichterer Export von Düngemitteln.
Das Auslaufen des Getreideabkommens sei für Russland ein willkommener Anlass, um die westliche Welt noch einmal nicht militärisch unter Druck zu setzen, meint Peters. Aus seiner Sicht sind die verstärkten Angriffe auf Odessa Teil dieser russischen Strategie, "um auch zu verhindern, dass jetzt die Schifffahrt auf Einladung der Ukraine alternative Routen wählt, die ja durchaus diskutiert werden".
Was muss der Westen jetzt tun?
Peters sagt, der Westen müsse sich jetzt entscheiden, ob er gegebenenfalls internationalen Handelsschiffen militärisches Geleit geben würde, was derzeit diskutiert werde. Allerdings erscheint ihm dies schwer umsetzbar. Erstens müsste die Türkei der Präsenz einer Reihe von Militärschiffen im Schwarzen Meer zustimmen. Ferner müssten spezielle Routen usw. festgelegt werden. Gleichzeitig weist Peters darauf hin, dass das Risiko zu groß wäre, dass westliche Staaten - und sei es nur aus Versehen - in direkte kriegerische Handlungen mit russischen Kriegsschiffen verwickelt werden. "Von Beginn des Krieges an versuchten sowohl Russland als auch der Westen, eine solche Eskalation zu vermeiden", betont er.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk