1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Russische Deserteure auf der Flucht

Mirko Fuchs
18. Juli 2023

In Russland nimmt die Zahl der Kriegsdienstverweigerer zu. Aus Angst vor der Mobilmachung und einem Einsatz in der Ukraine fliehen tausende Männer aus ihrer Heimat. Die DW sprach mit zwei von ihnen.

https://p.dw.com/p/4U0Lw
Männer in Uniformen liefen mit Waffen an einem Schießstand
Das wollen die Kriegsdienstverweigerer auf keinen Fall: Russische Rekruten üben, mit einem Gewehr umzugehenBild: AP/dpa/picture alliance

Tiefsitzende Kapuze, unauffällige Klamotten: Nikita schaut sich um. Er hat Angst. Angst, entdeckt zu werden. Mit diesem Gefühl lebt der Russe seit ein paar Monaten in Georgiens Hauptstadt Tiflis. Nikita heißt eigentlich anders. Seinen richtigen Namen will er lieber nicht nennen.

Bis Februar studiert der junge Mann in Moskau. Er hat einen Vertrag mit dem Militär, das ist nicht unüblich in Russland. Das Verteidigungsministerium bezahle sein Studium, erzählt Nikita der DW, und garantiere den Platz im Studentenwohnheim. Als Gegenleistung verpflichtet er sich, nach dem Studium drei Jahre Armeedienst zu leisten: "Den Vertrag habe ich damals aus Dummheit abgeschlossen. Viele Dinge waren mir nicht klar. Okay, dachte ich, ich werde zwar drei Jahre in der Armee vergeuden, dafür kriege ich aber mein Studium."

Russland: Soldaten in Uniform und mit Gepäck gehen an einem stehenden Zug entlang
Mobilmachung: Russische Rekruten vor der Abreise auf einem Bahnhof in der Region WolgogradBild: dpa/AP/picture alliance

Als Nikita seinen Einberufungsbefehl bekommt, beschließt er, den Dienst zu quittieren. Das Militär akzeptiert seinen Wunsch nach Entlassung jedoch nicht und bietet einen Kompromiss an: "Sie versetzten mich auf eine Stelle in der Führung, wo ich dem Kommandanten beim Papierkram helfen sollte. Im September bekam ich dann eine andere Stelle, ich arbeitete mit Militärtechnik und hätte im Falle eines Angriffs den Feind abwehren sollen."

Nikita begreift, dass er jederzeit in die Ukraine geschickt werden könnte. Er beschließt, Russland zu verlassen. Er flieht ins benachbarte Georgien: "Ich wollte nicht in den Krieg ziehen. Flucht war meine einzige Chance", erklärt er. Ihm seien die Risiken bewusst: "Dass ich mich mein Leben lang vor Russland verstecken muss, niemals mehr zurückkehren kann. Ich habe keine Angst zu sterben oder im Gefängnis zu landen. Aber ich will einfach keine Menschen töten."

Tausende wegen mutmaßlicher Fahnenflucht vor Gericht

Nikita ist nicht der einzige. Menschenrechtler wissen von mehr als tausend Gerichtsprozessen wegen angeblicher Fahnenflucht. Tatsächlich soll die Zahl der Deserteure noch größer sein, berichtet Grigory Swerdlin von der russischen NGO Idite Lesom der DW. Der Verein, dessen Name frei übersetzt "Hau ab" bedeutet, hilft russischen Kriegsdienstverweigerern, ins Ausland zu fliehen.

Manche hätten Angst vor einer Mobilisierung, sagt Swerdlin, andere seien bereits an der Front gewesen und wollten nicht mehr kämpfen. "Wir kriegen viele Berichte über das Chaos, das an der Front herrscht: Manchmal weiß niemand, wo die Kommandeure sind. Einige erzählen, dass sie einfach im freien Feld ausgesetzt wurden, völlig ahnungslos und ohne jegliche Führung. Es heißt, dass niemand den Rekruten etwas beibringt, dass das Training nur daraus besteht, ein einziges Mal mit einem Maschinengewehr zu schießen."

Wie willkommen sind fahnenflüchtige Russen in Georgien?

Vor allem im vergangenen Herbst, als die Mobilisierung beginnt, posten viele Einberufene in sozialen Medien Videos über Missstände in den Trainingslagern und an der Front. Igor Sandzhiev kennt sie aus eigener Erfahrung. Der 46-jährige Bauarbeiter nennt gegenüber der DW bewusst seinen Namen - er will seine Geschichte öffentlich machen. Heute lebt der Russe in Uralsk im Westen Kasachstans.

"Diese Lotterie namens Krieg"

Im Herbst vergangenen Jahres soll Igor sich beim Militär melden, angeblich, um die Personaldaten abzugleichen. Als er jedoch auf dem Amt erscheint, wird er direkt abkommandiert, erklärt er. Noch am gleichen Abend soll er sich in einem Trainingslager der Armee einfinden, einige Wochen später soll es an die Front gehen. 

Igor fühlt sich, als sei er in eine Falle geraten, und beschließt zu fliehen: "Für mich ging es um alles oder nichts. Ich dachte: Entweder komme ich für viele Jahre ins Gefängnis, weil ich die Militäreinheit verlasse, oder ich sterbe irgendwo in der Ukraine. Lieber gehe ich ins Gefängnis. Ich will kein Risiko eingehen. Ich will nicht diese Lotterie namens Krieg spielen, die Präsident Putin da veranstaltet." Sie sei tödlich. Nach Medienberichten soll der Krieg bereits zehntausende Russen das Leben gekostet haben. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.

Russische Geflüchtete stehen in Kasachstan in einer Schlange in der Nähe des Bürgerservicezentrums in Almaty, wo Migranten registriert werden
Zuflucht in Kasachstan: Russische Geflüchtete warten in Almaty darauf, als Migranten registriert zu werdenBild: Madija Torebaewa/DW

Viele, die Putins Erlass im vergangenen Jahr mobilisiert hat, waren Familienväter. Viele, die sich freiwillig meldeten, rechneten mit lukrativen Löhnen, vor allem Männer aus ärmeren Regionen. Das bestätigt auch Igor Sandzhiev, der ursprünglich aus der Republik Kalmückien im Süden Russlands kommt: "Die finanziellen Möglichkeiten sind bei uns begrenzt. Löhne werden nicht ausgezahlt. In den Krieg zu ziehen, ist für viele die einzige Chance, ihr Budget aufzustocken. Der eine hat eine Tochter kurz vor dem Studium, der andere hat eine Hypothek aufgenommen, der dritte braucht ein Auto."

Kasachstan ist für Igor bereits der zweite Zufluchtsort. Zuerst reist er nach Belarus, wird dort jedoch nach eigenen Angaben von der Polizei aufgegriffen und muss zurück ins Trainingslager bei Wolgograd. Er flieht ein zweites Mal, diesmal ins kasachische Uralsk. Dort stellt er einen Antrag auf Asyl, doch der wird abgelehnt.

Sein Fall erfülle nicht die Kriterien für einen Flüchtlingsstatus, heißt es im Gerichtsurteil. Darüber hinaus wird der Russe wegen illegalen Grenzübertritts zu einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Sandzhiev klagt und scheitert. Jetzt droht ihm die Abschiebung nach Russland.

"Auf mich warten Krieg oder Knast"

Auch das sei kein Einzelfall, sagt gegenüber der DW Denis Zhivago, stellvertretender Direktor des Internationalen Büros für Menschenrechte in Kasachstan. Mehr als zwanzig Russen warteten auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge: "Diese Menschen haben die Grenze nicht illegal überschritten. Sie halten sich völlig legal in Kasachstan auf, aber einige werden (in Russland, Anm. der Red.) gesucht, gegen andere wurden Ausreisebeschränkungen verhängt. Sie versuchen, andere Wege zu finden, um in Drittländer zu gelangen."

Igor Sandzhiev macht sich keine Illusionen über seine Zukunft: "Auf mich wartet der Knast oder der Krieg in der Ukraine. Den Russen wird gerade durch die staatlichen Medien vermittelt, dass das Personal an der Front knapp ist und Männer im arbeitsfähigen Alter kämpfen sollten."

Auch die Zukunft des jungen Nikita in Georgien ist ungewiss. Zudem fühle er sich im Land unsicher, "nicht, weil die Menschen hier böse sind oder so. Die Georgier behandeln mich als Russen nicht schlecht. Aber ich fürchte hier nach wie vor den russischen Staat. Manchmal habe ich Albträume, in denen mein alter Chef kommt, an der Tür klopft und sagt: 'Komm mit, ich habe dich gefunden.'"

Die beiden Russen Igor und Nikita wollen jedenfalls versuchen im, Ausland zu bleiben. Solange sie können.

Als russischer Deserteur in Lettland