Was Frauen von Deserteuren in Russland berichten
27. Oktober 2022In der vierten Woche der Teilmobilmachung, die am 21. September begonnen hat, kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, dass diese bald abgeschlossen sein werde. Das genaue Datum nannte er aber nicht. In Moskau wurden die Rekrutierungsstellen inzwischen geschlossen, aber in vielen Regionen des Landes sind sie noch aktiv. Offiziellen Angaben zufolge sollen 300.000 Bürger in die russische Armee eingezogen werden. Davon seien 222.000 bereits einberufen worden, so Putin.
Viele Männer, die sich seit Ende September vor einer Einberufung verstecken, haben inzwischen Russland verlassen. Wie fühlen sich ihre Frauen, die in Russland geblieben sind? Drei haben der DW ihre Geschichte erzählt. Ihre Namen wurden aus Sicherheitsgründen geändert.
Daria, 25 Jahre: "Hier hat man das Gefühl, dass alles in Flammen steht"
Daria, eine Texterin aus Tscheljabinsk im Südosten des Ural, hatte sich bis vor kurzem für Politik überhaupt nicht interessiert: "Ich habe mich nicht aufraffen können, herauszufinden, was fake und was echt ist." Sie betrachtete den Krieg als eine Katastrophe und versuchte, nicht an ihn zu denken. Sie verdrängte einfach das Problem. Doch als die Teilmobilmachung begann, bekam Daria Angst um ihren Ehemann Alexei. Sie studierte die Gesetze und entschied zusammen mit ihm, dass er das Land verlassen solle.
Alexei fuhr nach Kasachstan, weil er sich dort ohne einen Reisepass, den er nicht besitzt, aufhalten darf. Vor seiner Abreise schlief Daria nächtelang nicht. Sie übernahm alle Vorbereitungen, kümmerte sich um die Papiere, suchte eine Wohnung für ihren Mann und fand heraus, welchen Grenzübergang er am besten nehmen sollte.
Alexei richtete sich nach dem Plan seiner Frau und passierte die Grenze ohne Probleme. Jetzt wohnt er in einer Wohnung in der kasachischen Hauptstadt Astana und arbeitet dort als Fotograf. "Was die Arbeit, Kontakte und Aussichten angeht, läuft es dort noch besser als in Tscheljabinsk", so Daria.
Sie hilft ihrem Mann weiterhin aus der Ferne: Über einen Online-Shop bestellte sie Kissen, eine Decke, Bettwäsche und einen Wasserkocher für sein neues Zuhause und schickte zudem ein Paket mit Winterkleidung. Ein Problem ist das Internet, das bei Alexei in Kasachstan nicht so gut funktioniert und keine regelmäßigen Videoanrufe zulässt.
Daria beantragte derweil einen Reisepass und will schon bald zu ihrem Mann aufbrechen, denn sie befürchtet, dass die russischen Behörden wegen der Verhängung des Kriegsrechts im Donbass die Grenzen schließen könnten: "Ich will gar nicht daran denken, dass ich hier bleibe und er dort ist. Das ist sehr hart und traurig. Wir haben eine tolle Beziehung, wir sind seit 2017 zusammen." In dieser Situation ist die junge Frau jedoch froh, dass sie und ihr Mann noch kinderlos sind.
Jetzt macht sie sich nur noch Sorgen um ihre Eltern, die in Tscheljabinsk leben: "Sie sind patriotisch gesinnt, ich kann sie nicht umstimmen, weil sie hier noch weiterleben müssen. In Kasachstan lassen sich alle Probleme, mit denen mein Mann konfrontiert wird, lösen. Hier hat man das Gefühl, dass alles in Flammen steht."
Olga, 32 Jahre: "Unser Sohn versteht noch nicht, wo sein Papa ist"
Als die Teilmobilmachung von Wladimir Putin angeordnet wurde, dachte Olga aus Murmask im hohen Norden sofort, dass es nicht dabei bleibe und man alle Wehrfähigen einberufen werde. Deshalb entschieden sie und ihr Ehemann Artjom, dass er das Land verlassen solle. Seine Familie war über diese Entscheidung nicht glücklich, mischte sich aber nicht ein. Artjoms Mutter hat ein Haus in der Region Donezk. Sie möchte, dass diese Region russisch wird, aber mit minimalen Verlusten. Und Artjoms Vater findet, sein Sohn hätte in den Krieg ziehen sollen.
Olga half ihrem Mann, alles in Murmansk zu regeln, was noch zu erledigen war. "Wir mussten mit der Familie sprechen und Geld für die Reise aufbringen. Wir haben nach Tickets geschaut, aber es gab keine mehr. Gepackt hat Artjom selbst. Er kennt sich mit Tourismus aus. Er nahm einen Rucksack, einen Schlafsack, warme Unterwäsche, ein Erste-Hilfe-Set und Lebensmittel mit."
Artjom verließ Murmansk am 27. September und erreichte zwei Tage später Kasachstan. Während der gesamten Reise war nicht klar, ob Russland seine Grenzen schließt. "Gut, dass er nun weg ist. Wenigstens mache ich mir jetzt keine Sorgen mehr, dass sie ihn erwischen und einberufen", gibt Olga zu. Ihr Mann hat inzwischen eine Aufenthaltserlaubnis in Kasachstan. Zusammen mit anderen Männern, mit denen er gereist war, wohnt er in einer Wohnung in Almaty. Jetzt sucht Artjom nach Möglichkeiten, eine eigene Firma zu gründen.
Olga und Artjom haben einen vierjährigen Sohn. Für die Familie ist es die erste Trennung für so eine lange Zeit. Wichtige Entscheidungen treffen sie weiterhin gemeinsam, aber nun über Messenger. Aufgrund der schlechten Internetverbindung sind Videoanrufe selten möglich. Deshalb nehmen sie Videos füreinander auf. "Unser Sohn versteht noch nicht, wo sein Papa ist. Wenn er Videos von ihm sieht, weint er und dann will er mit ihm sprechen. Er vermisst seinen Papa", sagt Olga.
Sie selbst führt ihr gewohntes Leben als Erzieherin weiter. "Trotz all der schrecklichen Nachrichten ist man in einem Alltagstrott", sagt Olga. Einerseits will sie zu ihrem Mann, aber es fällt ihr schwer, ihr gewohntes Leben aufzugeben. "Mein Mann und ich haben über den Verkauf der Wohnung gesprochen, aber ich bin nicht bereit dazu. Ich weiß nicht, was passieren muss, damit ich alles aufgebe und gehe. Wahrscheinlich müsste hier erst eine Rakete einschlagen, dann würde ich wohl sofort weglaufen."
Elena, 41 Jahre: "Den Krieg stoppen können die Frauen nicht"
Elena ist Psychologin und lebt in Archangelsk im Norden Russlands. Mit Beginn der Teilmobilmachung beschlossen sie und ihr Mann, dass er und ihr gemeinsamer Sohn nach Armenien fliehen sollten. Der Sohn des Ehepaares wurde diesen Sommer - nach Ableistung des Wehrdienstes - aus der russischen Armee entlassen und studiert an einer Universität. "Bei der Mobilmachung wird er zu den Ersten zählen. Ich will das Leben und die Gesundheit meines Sohnes nicht aufs Spiel setzen", sagt Elena.
Die Firma, für die Elenas Ehemann mobil arbeitet, zog mit dem Ausbruch des Krieges in die armenische Hauptstadt Jerewan. Daher war klar, wohin die Reise gehen sollte. Sie mussten nur noch irgendwie dorthin gelangen. Elena fürchtete, ihr Mann und ihr Sohn könnten es nicht schaffen, Russland noch vor einer Schließung der Grenzen zu verlassen. Daher fuhren sie schon am 24. September zur georgischen Grenze.
In jenen Tagen war Elena eine Art "Logistikzentrum" für ihren Sohn und ihren Mann. "Davor hatte ich eine Art Depression und war niedergeschlagen. Doch als sich Lösungen ergaben, bekam ich einen Energieschub", erinnert sich die Frau. Ihr Mann und ihr Sohn schafften es an einem Tag, die Grenze zu überqueren, was, so Elena, nun zu einer Familienlegende geworden sei.
Jetzt richten sich ihr Mann und ihr Sohn in Jerewan ein und gewöhnen sich an die armenische Küche. Schwierigkeiten gibt es bei der Geldüberweisung, auch ist noch unklar, wie ihr Sohn sein Studium an der russischen Universität fortsetzen soll. Trotz der Trennung geht es Elena jetzt besser. "Sie sind nun in Sicherheit. Nicht unserer Familie widerfährt Schlimmes, sondern unserem Land. Wir richten uns auf alles ein, diese Probleme werden uns aber nicht brechen, sondern stärker zusammenschweißen", sagt die Frau.
Ende Oktober will sie ihren Mann und ihren Sohn besuchen und ihnen warme Kleidung bringen. Einen endgültigen Umzug nach Jerewan plant sie aber noch nicht. In Archangelsk engagiert sie sich gesellschaftlich und will dies so lange wie möglich tun.
Über die Frauen, die ihre Männer in den Krieg schicken, sagt Elena: "Sie denken, dass dieser Krieg so etwas wie der Große Vaterländische Krieg ist." Sie glaubt, dass Frauen in Russland jetzt weniger gefährdet sind als Männer: "Wir können den Platz der Männer einnehmen und Entscheidungen treffen, die sich auf eine Änderung der Politik des Landes auswirken können. Doch den Krieg stoppen können die Frauen nicht."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk