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Die Furcht der Russen vor der Einberufung

Emily Sherwin
23. September 2022

Viele Russen befürchten, dass es nicht bei einer Teilmobilmachung bleibt und immer mehr Männer im Ukraine-Krieg kämpfen - und sterben - könnten. Während manche schnell das Land verlassen, wagen andere den Protest.

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Verhaftung eines Demonstranten bei Protesten gegen Teilmobilmachung, Moskau
Viele Russen protestieren gegen die Teilmobilmachung - und werden verhaftet. Andere versuchen, das Land zu verlassen. Bild: Vyacheslav Prokofyev/TASS/dpa/picture alliance

Diese Woche Mittwoch wandte sich der russische Präsident Wladimir Putin in einer seltenen Fernsehansprache morgens an die Bevölkerung und befahl eine "Teilmobilmachung". Diese Maßnahme sei nötig, um das russische Volk vor der, in seinen Worten, "gesamten Kriegsmaschinerie des kollektiven Westens" zu schützen. Putin versicherte mehrmals, es seien nur Reservisten und Personen betroffen, die in der Armee gedient hätten oder über militärische Erfahrungen verfügten.

Auch der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu erklärte, Wehrpflichtige und Studenten würden nicht zum Kampf einberufen. Im Rahmen der neuen Mobilisierungsmaßnahmen sollten lediglich 300.000 Personen eingezogen werden.

Soldatenanwerbung per Job-Portal?

Völlig unerwartet kam die Ankündigung nicht. Diskussionen darüber, ob Russland mehr Soldaten benötigt, erhielten diesen Monat eine neue Dringlichkeit, nachdem die Ukraine mehr als 6000 Quadratkilometer des von Russland besetzten Gebiets zurückerobert hatte. Seit Beginn des Krieges gibt es Berichte über Bemühungen in Russland, mehr Männer für den Kampf zu anwerben, unter anderem mit Anzeigen auf Job-Portalen, in denen schnelles Geld versprochen wird. Mitte September machte in den sozialen Medien ein Video die Runde, das angeblich zeigt, wie der dem Kreml nahestehende Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin russische Häftlinge rekrutiert, um als Teil der Söldnergruppe Wagner in der Ukraine zu kämpfen.

Ukrainische Soldaten auf einem gepanzerten Mannschaftswagen in Isjum, Ukraine
Die Rückeroberungen einiger Gebiete durch das ukrainische Militär könnte laut Experten einen Wendepunkt markierenBild: Oleksii Chumachenko/dpa/SOPA Images via ZUMA Press Wire/picture alliance

Putins "Teilmobilmachung" macht den Aufruf zu den Waffen also offiziell - und wirft Fragen auf. Der auf der Website des Kreml veröffentlichte Befehl führt zehn Punkte auf, die den rechtlichen Status der einberufenen Soldaten darlegen, doch Punkt sieben fehlt. Laut Pressesprecher des Kremls, Dimitri Peskow, bezieht sich dieser auf die Anzahl der Rekruten und hat nur verwaltungstechnische Bedeutung. Damit stellt sich die Frage, ob der Kreml tatsächlich nur 300.000 Soldaten einberufen will. Die kremlkritische Zeitung "Nowaja Gaseta" berichtete, die tatsächliche Zahl der benötigten Rekruten sei vor Entfernung von Punkt sieben mit einer Million angegeben worden.

Viel Panik vor dem Einberufungsbefehl

Nicht jeder in Russland hat Vertrauen in die Zusicherungen des Kremls. Auf der Messenger-App Telegram entwickelten sich Gruppen mit Namen wie "Hier werden Einberufungsbescheide verteilt" und "Einberufungsbescheide Russland" zu Aktivitätszentren für Tausende von Mitgliedern. In den Gruppen wurden Nachrichten über Orte geteilt, an denen die Polizei wartete, um Einberufungsbescheide auszuhändigen. "Moskau, Übergang Metrostation Tschechow Puschkin. Polizisten mit Papieren halten Männer an" lautet einer dieser Posts, zusammen mit einem verschwommenen Foto von Polizisten und Fahrgästen. Ein anderer Post zeigt Männer in Tarnkleidung und lautet: "St. Petersburg - sie kommen in die Studentenwohnheime".

Die Deutsche Welle konnte den Wahrheitsgehalt dieser Posts vor Veröffentlichung dieses Artikels nicht überprüfen, sie geben jedoch das Gefühl von Panik wieder, das Putins Ankündigung in einigen Menschen ausgelöst hat. Mitglieder eines kremlfreundlichen Telegram-Kanals, in dem der Krieg befürwortet wird, beschuldigten die Absender solcher Warnhinweise, pro-ukrainisch zu sein: "Wir sind nicht wie ihr. Und auf unseren Straßen wird niemand [von der Polizei] aufgegriffen".

Kann man den Worten Putins trauen?

Kremlkritiker sind überzeugt, dass die Teilmobilmachung durchaus Anlass zur Sorge gibt. "Die wichtigste Nachricht des Tages ist, dass Russland eine Mobilmachung angekündigt hat", sagt Sergej Kriwenko, Ex-Mitglied des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten, und merkt an, dass das, was heute für "Teile" gilt, sehr schnell für alle gelten kann. Kriwenko, der heute die Menschenrechtsorganisation "Bürger. Armee. Gesetz." leitet, weist im Gespräch mit der Deutschen Welle darauf hin, dass die vom Kreml genannte Anzahl von Rekruten in keinem offiziellen Dokument genannt wird.

DW Interview mit Dmitry Gudkow,
Dmitry Gudkow, russischer Oppositionspolitiker im Gespräch mit der Deutschen WelleBild: DW

Der prominente russische Oppositionspolitiker Dmitrij Gudkow teilt seine Zweifel. "Sie bezeichnen es zwar nur als 'Teilmobilmachung', sagt der Politiker, der im Juni 2021 das Land verließ, weil er befürchten musste verhaftet zu werden. Aber: "Ich habe Putins Befehl genau gelesen. Sie mobilisieren jeden", ist er sich sicher. Es gebe lediglich bestimmte Personenkategorien, die zuerst eingezogen würden. "Sie besorgen sich zusätzliches Kanonenfutter. Putin hat den neuesten Beerdigungsmarsch angekündigt. Heute habe ich an viele Menschen geschrieben und gesagt: Leute, verlasst das Land."

Nichts wie weg aus Russland

Viele Menschen in Russland scheinen dieselben Schlüsse gezogen zu haben wie Gudkow. Wie lokale Medien berichten, sind Flüge, die Russland in den nächsten Tagen in Richtung von Ländern verließen und für die kein Visum erforderlich ist, fast sofort ausverkauft gewesen. Dabei erreichten die Preise für Ziele wie die Türkei, Armenien und Aserbaidschan schwindelerregende Höhen von mehr als 2000 Euro.

Russland Moskau | Fluginformation am Vnukovo International Airport
Nach Ankündigung der Teil-Mobilmachung schnellten die Flugpreise in die HöheBild: Vladimir Gerdo/TASS/dpa/picture alliance

Das regierungskritische Exilmedium Meduza veröffentlichte einen Artikel mit dem Titel "Wohin man jetzt aus Russland fliehen kann", der eine Liste von Ländern und deren Einreisebestimmungen enthält. Die EU-Mitglieder Lettland, Litauen und Estland kündigten an, Russen, die vor der Mobilmachung Moskaus fliehen, keine Zuflucht zu bieten. Diese Einschränkung gilt jedoch nicht für Dissidenten oder Flüchtlinge.

Der Krieg rückt in den russischen Alltag ein

Wie groß der Anteil der russischen Bevölkerung ist, der negativ auf die Teilmobilmachung reagiert, lässt sich nur schwer feststellen. Denis Volkow vom unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstitut Levada Center meint, viele Menschen hätten sich daran gewöhnt, "in einer Konfliktsituation zu leben". Durch die Gewöhnung rücke der Konflikt in den Hintergrund, die Mobilisierung könne ihn jedoch wieder in den Vordergrund stellen.

Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Februar ist Russland immer autoritärer geworden. Obwohl Demonstranten die ganze Macht des Gesetzes fürchten müssen, fanden überall im Land Proteste gegen die Teilmobilmachung statt.

Dabei wurden laut der Menschenrechtsorganisation OVD Info in 30 Städten mehr als 1200 Menschen festgenommen. Hunderttausende haben bereits eine Petition gegen eine Teil- und Generalmobilmachung unterzeichnet. Und das, obwohl die "Diskreditierung" der Streitkräfte eine Straftat ist, auf die bis zu 15 Jahren Gefängnis steht.  

Größere Demonstrationen sind jedoch unwahrscheinlich, erklärt Denis Volkow: "Massenproteste sind in Russland im Moment unmöglich. Allein die Idee erscheint wie ein Hirngespinst."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.