Shoa-Überlebender spielt gegen Corona an
8. Mai 2020Das mit dem Maskentragen gefällt Simon Gronowski nicht. Bei seinem Enkel Romain beschwert er sich, dass er die Fragen der Journalistin gar nicht richtig versteht, wenn sie die hinter dickem Baumwollstoff hervor nuschelt.
Gronowski ist 88 Jahre alt, er trägt Hörgeräte in beiden Ohren. Eines rutscht ihm raus, als er sich die türkisfarbene OP-Maske überstülpt. Er mag nicht mehr so gut hören, aber alt, nein alt, wirkt der Belgier ganz und gar nicht. "Ich arbeite immer noch als Anwalt, ich bin viel zu jung, um aufzuhören", sagt er hinter seinem schweren braunen Schreibtisch sitzend.
Dieses Anwaltsein ist etwas, das ihn stolz macht, weil er es aus eigener Kraft geschafft hat. Ein Ziel, das für ihn als jüdischen Jungen ohne Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg keinesfalls selbstverständlich war.
Gerettet durch den belgischen Widerstand
Simon Gronowski hat es belgischen Widerstandskämpfern zu verdanken, dass er dieses Ziel erreichen konnte. Drei Aktivisten überfielen am 19. April 1943 den Zug, mit dem Gronowski und seine Mutter Chana vom Sammellager im belgischen Mechelen ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert werden sollten. Von den etwa 1600 zusammengepferchten Menschen konnten mehr als 200 fliehen. Einer davon war Simon Gronowski.
Er habe in dieser Nacht den Sprung aus dem Zug gewagt, weil er seiner Mutter gehorcht hätte, sagt Gronowski heute. "Wenn sie gesagt hätte, ich solle bei ihr bleiben, wäre ich nicht gesprungen und wäre mit ihr in den Tod gegangen."
Dass seine Mutter ihm nicht gefolgt ist, erklärt sich Gronowski damit, dass sie seine Flucht nicht habe behindern wollen. Er, damals elfjährig, rannte in die Nacht und hatte das Glück, von einem belgischen Polizisten gedeckt und von christlichen Familien aufgenommen zu werden. 77 Jahre später sagt er, dass diese Menschen zu den Personen zählen, denen er am meisten dankbar ist im Leben. "Viele Belgier halfen verfolgten Juden", erzählt Gronowski.
Tatsächlich arbeiteten während des Zweiten Weltkriegs verschiedene Widerstandsgruppen in Belgien gegen die Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland. Der Überfall auf den Deportationszug Nr. 20, in dem Gronowski saß, blieb allerdings eine Ausnahme. Von den ungefähr 65.000 Juden, die zu Kriegsbeginn in Belgien lebten, wurden mehr als 25.000 von den Nazis ermordet, teilweise mithilfe belgischer Kollaborateure.
Gronowski kehrte nach Brüssel zurück, nachdem die Alliierten seine Heimatstadt befreit hatten. Als Jugendlicher vermietete er die Zimmer im Haus seines Vaters - der kurz nach dem Krieg 1945 starb - und finanzierte sich so sein Jurastudium.
Manchmal frage man ihn, wie er es geschafft habe, mit all dem Leid zurechtzukommen, sagt Gronowski. Geholfen habe ihm, dass er seine ältere Schwester sehr verehrt habe - Ita, die etwas später als seine Mutter im Zug nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht wurde. Ihre Liebe zur Musik habe ihn nach dem Krieg ans Klavier getrieben. "Seitdem ist Jazz mein Leben", sagt Gronowski. Am liebsten improvisiert er, inspiriert von Jazzgrößen wie Ella Fitzgerald, Duke Ellington, Count Basie.
Punkt 20 Uhr beginnt die Jazz-Improvisation
In Brüssel ist Gronowski kein Unbekannter: Er gibt regelmäßig Konzerte. Einmal ist er sogar mit einem der bekanntesten US-amerikanischen Schauspieler und Regisseure aufgetreten: Woody Allen. Von sich selbst behauptet Gronowski: "Ich bin kein großer Pianist."
Trotzdem hat er sich entschieden, jetzt in der Corona-Krise regelmäßig ein kurzes Konzert zu spielen. Wenn er schon nicht raus darf, will er zumindest den Nachbarn eine kleine Freude machen. Sein Enkel hat ihm dabei geholfen, das Klavier vor ein Fenster im Erdgeschoss seines Hauses zu rücken.
Ein- bis zweimal die Woche streift Gronowski nun seine braune Jacke über - die ersten Maitage in Brüssel lassen trotz Sonne frösteln -, öffnet das große Fenster zur Straße, setzt sich und beginnt Punkt 20 Uhr zu spielen. Genau dann, wenn selbst nach Wochen der Ausgangssperre noch einige Bewohner von Brüssel von ihren Fenster und Balkonen aus für jene Menschen klatschen, die in diesen Tagen Besonderes leisten, Krankenpfleger und Verkäuferinnen zum Beispiel.
Gronowski improvisiert, lässt "What a Wonderful World" einfließen von einem seiner Helden: Louis Armstrong. Ein passendes Lied, selbst für diese Zeiten, wird er später erzählen. "Es freut mich, wenn ich ein bisschen Hoffnung verbreiten kann. Diese Krise ist sehr hart und man braucht viel Mut, um sie zu überwinden."
Als Gronowski spielt, zieht es ein paar Nachbarn aus ihren Häusern, einige Jogger bleiben stehen, sammeln sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu einem kleinen Publikum, das fast einen Pulk bildet, auch wenn alle Abstand halten. Ein Passant hört gebannt zu, sagt dann, es sei das erste Mal seit mehr als einem Monat, dass er so viele Menschen an einem Ort zusammen sehe.
Auf der kleinen Bühne im Fenster erhebt sich Gronowski nach etwa 20 Minuten von seinem Stuhl und winkt nach drüben. Das Publikum klatscht noch einmal besonders laut, bevor alle wieder in ihren Hauseingängen verschwinden.
Gronowski vergleicht die Einschränkungen, die viele überall auf der Welt wegen des Coronavirus in Kauf nehmen müssen, mit dem, was er als Jude im Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Die Zeit, als er sich nicht aus dem Haus traute, in ständiger Angst lebte, von den Nazis gefunden zu werden. Der große Unterschied sei, dass man jetzt Fernsehen könne, Zeitung lesen, Essen auf Vorrat kaufen. Zu viele Parallelen ziehen will er nicht, aber eines ist klar: Es ist auch dieses Mal der Jazz, der ihm Hoffnung gibt.