Soziale Medien setzen Kinder unter Druck
23. März 2018"Gibt es jemanden hier, der gar keinen Social-Media-Account hat?", frage ich die 12- und 13-jährigen Kinder, die vor mir sitzen. Nein, natürlich nicht. In der siebten Klasse des Wiedtal-Gymnasiums in Neustadt/Wied sind alle Schüler online. Meist schon seit ein paar Jahren und meist mehrere Stunden am Tag. Ihre Lieblingsnetzwerke sind WhatsApp, Instagram, Snapchat und Youtube.
"Wir sind eine Schule auf dem Land, deshalb sind die sozialen Medien schon ein Segen", sagt Schulleiter Wolfgang Latz. Ihre Smartphones erlaubten es den Kindern, die Eltern zu informieren, wenn der Bus eingeschneit sei und sich Informationen zu beschaffen in einer Gegend, in der es weit und breit keine Bibliothek gäbe. Trotzdem herrscht am Wiedtal-Gymnasium im Westerwald striktes Handyverbot. Schulleiter Latz hat es durchgesetzt, nachdem seine Schüler begannen, die Pausen mit Gewaltvideos zu überbrücken. Doch auch das ständige liken, posten und chatten während des Unterrichts zwang den Schulleiter zum generellen Verbot.
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Soziale Medien machen Mädchen unglücklich
Das ist die Kehrseite der sozialen Netzwerke: Permanente Kommunikation und eine Flut von Informationen lenken bereits zehnjährige Kinder von den Hausaufgaben ab und machen das Spielen draußen uninteressant. Die Angst etwas zu verpassen fesselt schon die Jüngsten an das Smartphone. Laut einer britischen Studie der University of Essex machen die sozialen Medien vor allem jungen Mädchen das Leben schwer. Die Forscher stellten in einer Langzeitstudie fest, dass das Wohlbefinden von Kindern, die bereits im Alter von zehn Jahren einen Social-Media-Account haben, im Verlauf der nächsten fünf Jahre signifikant abnimmt. Dabei fiel den Wissenschaftlern ein Geschlechterunterschied auf: Mädchen werden unglücklicher als Jungen.
Die Forschung zu den Auswirkungen von WhatsApp, Instagram und Co. steckt noch in den Kinderschuhen, deshalb kann auch Cara Booker, Autorin der Studie, über die Hintergründe ihrer Ergebnisse nur spekulieren. "Mit zehn Jahren ist ein Kind nicht alt genug, um zu verstehen, dass auch Menschen, die ausschließlich Positives über sich posten, schlechte Tage haben. Du siehst nur all das Schöne und Aufregende, empfindest dein eigenes Leben als nicht so toll- und wirst unglücklich."
Deshalb bin ich heute an meiner alten Schule: Ich möchte von den Kindern wissen, wie es ihnen mit Social Media geht. Empfinden sie die digitale Vernetzung als Erleichterung oder als Belastung? Und vor allem: Gibt es da einen Geschlechterunterschied? Zum Einstieg in das Thema haben wir einen Fragebogen mitgebracht: Welche sozialen Medien nutzt ihr? Was gefällt euch daran, was findet ihr nicht so gut?
Kaum ist der letzte Bogen abgegeben, schießen die Finger in die Luft. Die Kinder wollen reden und drücken sich erstaunlich differenziert und präzise aus. Sie sind aufgeweckt und reflektiert, keine stumpfsinnigen Smartphone-Zombies.
Neue Abonnenten sind Belohnungen fürs Gehirn
"Es macht glücklich zum Beispiel neue Abonnenten zu bekommen", sagt ein zwölfjähriger Schüler. "Gesehen und beachtet werden" ist für einen anderen Jungen ein Hauptargument für seine Präsenz auf Instagram. "Wir halten uns in den sozialen Medien auf, um soziale Anerkennung zu erhalten", erklärt Dar Meshi, Neurowissenschaftler an der Michigan State University. Jedes "Gefällt mir", jeder positive Kommentar unter einem Post aktiviere das Belohnungssystem unseres Gehirns. "Es ist dasselbe Netzwerk von Hirnregionen, das auch aktiviert wird, wenn wir essen, Sex haben oder Drogen nehmen", sagt Meshi.
Je länger die Schüler sprechen, desto klarer wird allerdings: Die sozialen Medien setzen die Kinder auch unter Druck. Eine nicht sofort beantwortete WhatsApp-Nachricht kann einen ernsten Konflikt unter Freunden heraufbeschwören. Denn die allgemeine Annahme ist: Du bist immer und überall erreichbar. Wer sich in eine Diskussion der zahlreichen WhatsApp-Gruppen nicht auf der Stelle einklinkt, droht den Anschluss zu verlieren und etwas Wichtiges zu verpassen. Niemand möchte außen vor bleiben, also steigen alle ein und machen mit, notgedrungen. Eine Schülerin erzählt von mehreren Mädchen, die anfingen sich selbst zu verletzen, weil dieser Druck zu groß wurde.
Vor allem Mädchen vergleichen sich sehr stark mit anderen, sagt Sozialwissenschaftlerin Booker. Der Wunsch, genauso viele Abonnenten und Aufmerksamkeit zu bekommen wie die Freundinnen könne extrem anstrengend sein und unglücklich machen. Unter Neurowissenschaftlern kursiert deshalb die These, dass die Online-Jagd nach Likes und Herz-Smileys genauso abhängig machen könnte wie Offline-Drogenkonsum. Die Forschungen dazu laufen aber erst an. Dar Meshi plädiert deshalb für Zurückhaltung: "Als Neurowissenschaftler können wir nicht sagen, dass soziale Medien schlecht sind. Wir wissen es einfach noch nicht."
Für immer nackt durch Social Media
Die Schüler in Neustadt scheinen sich der Gefahren bewusst zu sein. Neben Komplimenten und neuen Freundschaftsanfragen hält das Netz auch Beleidigungen und Hass bereit, das wissen viele. "Wer etwas Privates von sich postet, sollte sich erstmal überlegen, ob er oder sie auch bereit ist, negative Kommentare auszuhalten", sagt eine Schülerin. Aber nicht alle Mädchen scheinen sich diese Gedanken zu machen.
In welches Unglück Social Media gerade junge Mädchen stürzen kann, erfahren auch Schülerinnen des Wiedtal-Gymnasiums immer wieder: Sie verschicken gutgläubig Bilder von sich, leicht bekleidet, aufreizende Pose, an einen Mitschüler ihres Vertrauens. Der teilt es erst mit Freunden, dann mit der ganzen Klasse, bis die gesamte Schülerschaft das Bild kennt. "Ein- bis zweimal im Jahr kommt so etwas vor", sagt Latz, "und das ist dann wirklich ein großes Problem." Mehrere Schülerinnen haben die Schule nach einem solchen Vorfall verlassen. Die Scham war einfach zu groß.
Der Schulleiter hat das Für und Wider der sozialen Medien auf dem Schirm. Er versucht in verschiedenen Veranstaltungen sowohl die Eltern als auch die Schülerschaft für mögliche Gefahren zu sensibilisieren. Soziale Medien werden aber auch in den Unterricht einbezogen, wo immer es Sinn ergibt. Latz' Schüler entwickeln derweil ihre eigenen Ideen.
Es hat längst zur großen Pause geklingelt. Drei Jungs aus der ersten Reihe wollen trotzdem unbedingt noch von ihrem Youtube-Projekt erzählen. Sie nennen es "Outside Area" und wollen damit Gleichaltrige animieren, wieder mehr nach draußen zu gehen, anstatt auf dem Sofa liegend auf das Smartphone zu starren. Stattdessen könne man das Handy und Social Media doch kreativ nutzen, sagen die Jungs. Sie haben einen Brutkasten für Hühnereier gebaut und den Prozess gefilmt. Weitere Projekte dieser Art sollen folgen. Nein, von stumpfen Smartphone-Zombies kann hier ganz und gar keine Rede sein.