Westliche Truppen für die Ukraine: Fallen die Tabus?
29. Mai 2024Es wirkt wie ein Dammbruch. Bei seinem Staatsbesuch in Deutschland warb der französische Präsident Emmanuel Macron dafür, der Ukraine Schläge mit westlichen Waffen auf militärische Ziele in Russland zu erlauben. Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz widersprach nicht und erklärte, das Völkerrecht lasse dies zu. Zuvor hatte sich NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg dafür ausgesprochen, aber auch Regierungsvertreter in Großbritannien, Polen und den baltischen Ländern. Die USA und Deutschland waren bislang dagegen und begründeten dies mit der Befürchtung einer Eskalation.
Mit westlichen Waffen gegen den russischen Vorstoß
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wirbt in diesen Tagen in europäischen Hauptstädten immer stärker dafür, dieses Tabu brechen zu dürfen. Sein Land ist momentan deutlich schwächer aufgestellt als zuvor, auch weil die USA monatelang keine Waffen geliefert haben. Im Nordosten der Ukraine, nahe der russischen Grenze, greift Russland die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw täglich mit Bomben und Raketen an. An einigen Stellen konnte die russische Armee Geländegewinne erzielen und sie sammelt nach ukrainischen Berichten Kräfte für einen womöglich noch größeren Vorstoß. Bisher antwortet die Ukraine nur mit eigenen Waffen auf Ziele im international anerkannten Gebiet Russlands. Für die russisch besetzten Territorien auf der Krim und in der Ostukraine gilt die Einschränkung nicht, hier darf die ukrainische Armee auch westliche Waffen verwenden.
Jahara Matisek, Oberstleutnant der US-Luftwaffe und Professor am US Naval War College, glaubt, die Ukraine werden Städte wie Charkiw nicht ohne Schläge mit westlichen Waffen auf russische Stellungen nahe der Grenze verteidigen können. Dass Russland einen "sicheren Hafen auf eigenem Gebiet" haben dürfe, sei eine "schlechte militärische Strategie", sagt Matisek in einem DW-Gespräch.
Europäische Ausbilder in Westukraine?
Auch weitere Tabus wackeln. Die Truppenpräsenz einiger NATO-Staaten in der Ukraine scheint jetzt möglich. Olexandr Syrskyj, Oberbefehlshaber der Ukrainischen Streitkräfte, hat nach eigenen Angaben Papiere über die Präsenz französischer Militärausbilder unterzeichnet. Diese könnten "bald" kommen, um sich ukrainische Trainingszentren anzuschauen, so der General in sozialen Netzwerken. Syrskyj sprach von einem "ambitionierten Projekt". Er hoffe, andere Partner würden folgen. Frankreich milderte die Botschaft zunächst jedoch ab: Man sei im Gespräch, hieß es Medien zufolge aus Paris. Macron kündigte nun an, kommende Woche einen Plan zur Entsendung von Ausbildern vorzulegen.
Truppen zur Ausbildung in die Ukraine zu schicken, sei ein erstes mögliches Szenario, sagt der französische Außenpolitik-Experte Nicolas Tenzer gegenüber der DW: "Frankreich ist möglicherweise bereit, das zu tun - so schnell wie möglich." Standorte könnten Lwiw oder Kiew sein.
Sollte Frankreich tatsächlich Ausbilder in die Ukraine schicken, wäre es womöglich nicht allein. Auch Polen will das nicht ausschließen, ebenso die baltischen Staaten. Im Februar hatte Macron für Aufsehen gesorgt, als er als erster westlicher Staatschef eine Entsendung seiner Truppen in die Ukraine nicht ausschließen wollte. Das galt bis dahin als eine der roten Linien im russischen Angriffskrieg - sowohl für Moskau, als auch für den Westen.
Anfang Mai bekräftigte Macron seine Äußerungen und gab der Debatte neue Nahrung. Sollte Russland ein Durchbruch gelingen und die Ukraine um die Entsendung von Truppen bitten, würde man darüber nachdenken müssen, so Macron. Bisher hat Selenskyj eine solche Bitte nicht ausgesprochen.
Ausbilder gegen Personalmangel an der Front
"Während Russland vorrückt, überlegt die NATO, Ausbilder in die Ukraine zu schicken", titelte Mitte Mai die New York Times. Das würde der Regierung in Kiew erlauben, dringend gebrauchte, neu mobilisierte Soldaten schneller als bisher zu trainieren und an der Front einzusetzen, so das Blatt. Die wichtigste Einschränkung scheint zu sein: keine direkten Kampfhandlungen mit Russland.
Jahara Matisek hält die Entsendung von Ausbildern für leicht umsetzbar. "Man könnte problemlos ein paar tausend westliche Truppen nach Lwiw als Teil einer Ausbildungsmission schicken", sagt der Militärexperte. Die Europäische Union habe bereits eine solche Ausbildungsmission und könnte sie in die Ukraine verlegen, so Matisek, der im April als Co-Autor eines Artikels im US-Fachmagazin Foreign-Affairs eine führende Rolle der Europäer gefordert hatte.
Sein Vorschlag - der in der politischen Diskussion so allerdings nicht erwogen wird - geht noch weiter: Westliche Länder könnten Truppen entlang der ukrainischen Grenze und im Landesinneren bis zum Ufer des größten ukrainische Flusses Dnipro stationieren. "Ich denke, das würde ein sehr deutliches Signal an (Russlands Präsident) Wladimir Putin senden, dass der Westen weitere territoriale Eroberungen in der Ukraine nicht mehr tolerieren würde", erklärt Matisek. "Wenn die Europäer das machen würden, dann würde das bis zu 20 ukrainische Brigaden freigeben, die dann näher an die Front verlegt werden könnten."
Es gibt auch Kritiker dieser Idee in Fachkreisen. Manche werfen Macron und seinen Unterstützern vor, europäische Trennlinien bloßgestellt zu haben.
Eingeschränkte Flugverbotszone
Sollte der Westen tatsächlich Truppen in die Ukraine schicken, würde dies auch "mehr Flugabwehr" bedeuten, um diese zu schützen, so US-Militärexperte Matisek. In Deutschland plädieren manche Politiker und Experten dafür, dass NATO-Länder vom eigenen Territorium russische Drohnen und Raketen über der Westukraine abschießen.
Anfang Mai zeigten sich Bundestagabgeordnete offen dafür. In einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wurden Roderich Kiesewetter von der oppositionellen CDU genannt, aber auch Vertreter der Regierungsparteien - Markus Faber von der FDP, Agnieszka Brugger und Anton Hofreiter von den Grünen. Es gehe um den Vorschlag, der unter anderem vom Experten der Münchner Sicherheitskonferenz Nico Lange kommt. Die Idee: von Ländern wie Polen aus den Himmel über der Westukraine rund 70 Kilometer tief zu schützen.
Das wäre faktisch eine eingeschränkte Flugverbotszone. Kanzler Scholz ist gegen jegliche Beteiligung der NATO und kritisiert solche Ideen. Er wirbt seit Wochen um mehr Lieferungen von Flugabwehrsystemen in die Ukraine. Die Bundesrepublik schickte vor kurzem zwei weitere - ein Patriot und ein IRIS-T.
US-Experte Matisek sagt, er habe Verständnis für die deutsche Zurückhaltung gegenüber Russland - aus historischen Gründen. Er hält jedoch das Risiko einer Eskalation für hinnehmbar. Wenn der westliche Einsatz begrenzt bleiben und russischen Raketen und Drohnen nur über der Ukraine, nicht aber über Russland selbst oder Russlands Verbündeten Belarus abgeschossen würden, dann wäre das eine "beinahe humanitäre Mission", so Matisek.
Nicht alles sehen das so. Eine eingeschränkte Flugverbotszone dürfte besonders schwer umsetzbar sein, sagen Beobachter im Westen. Bisher hat sich kein Staatschef eines NATO-Landes dafür ausgesprochen. Und Russland droht, westliche Soldaten in der Ukraine würden zum Ziel russischer Attacken. Auch die jüngsten Übungen seiner Truppen mit taktischen Atomwaffen hat Russland damit begründet, dass einige westliche Länder Soldaten in die Ukraine schicken könnten und es Kiew erlaubten, mit ihren Waffen russisches Gebiet anzugreifen.