Ostukraine vor dem Exodus?
1. Juni 2014Bilder von Straßensperren und kreisenden Kampfhubschraubern, Meldungen über Tote und Verletzte, festgesetzte OSZE-Beobachter: Von der Hoffnung, dass sich die Lage in der Ostukraine nach der Präsidentenwahl beruhigen könnte, ist schon nach wenigen Tagen nichts mehr übrig geblieben.
Im Zentrum der Kämpfe steht nach wie vor die Separatistenhochburg Slowjansk im Osten. Dort ist der so genannte Anti-Terror-Einsatz in vollem Gange, Polizei- und Militäreinheiten der Regierung treffen auf schwer bewaffnete Separatistengruppen. Und immer mehr Menschen fliehen aus der umkämpften Stadt. Das beobachtet auch der freie Fotograf Petr Shelomovskiy, der momentan in der Nähe von Slowjansk unterwegs ist. "Ich sehe viele Familien, die mit ihren Kindern in den Hotels in der umliegenden Gegend unterschlüpfen, um dem Kriegsgebiet zu entkommen."
Zerstörte Dörfer und Schüsse an Kontrollposten
Es seien bestürzende Geschichten, die er in den Hotelressorts außerhalb der Stadt zu hören bekomme, erzählt Petr Shelomovskiy im DW-Interview: von Einwohnern, die sich am Abend im Keller verschanzen, weil ihre Häuser jede Nacht bombardiert werden; von zerstörten Dörfern rund um Slowjansk. Jemand habe ihm erzählt, so der Fotograf, dass auf den Sohn einer befreundeten Familie geschossen wurde, weil er an einem Kontrollposten nicht angehalten habe. Längst fliehen nicht mehr nur diejenigen aus der Stadt, die gegen die Separatisten sind: "Ich habe eben erst mit einer Familie gesprochen, die absolut prorussisch ist und die Separatisten unterstützt - aber auch sie sagen, dass sie dort nicht mehr bleiben können. Ihr Haus wurde beschossen."
Ist es nun ein "Anti-Terror-Einsatz", wie die Regierung sagt, oder ein Bürgerkrieg, wie die russische Regierung meint? Für die Bevölkerung, so Shelomovskiy, sei das längst nicht mehr die entscheidende Frage. Tatsache sei, dass überall Waffen seien und gekämpft werde. "Besonders die Menschen in den Krisengebieten wollen einfach, dass die Kämpfe aufhören. Ihre Häuser werden zerstört, ihre Verwandten werden getötet, ihr Leben wird kaputtgemacht. Und viele von denen, die bisher gegen die neue Regierung in Kiew waren und nicht mehr Teil der Ukraine sein wollten, sind sich da jetzt nicht mehr so sicher."
200 Dollar für den Kampfeinsatz
Petr Shelomovskiy ist der Ansicht, dass die Regierung nicht einfach dabei zusehen kann, wie immer mehr bewaffnete Kräfte über die Grenze kommen. Berichte darüber, dass auch Kämpfer aus Tschetschenien in der Ostukraine im Einsatz sind, kann er zwar nicht bestätigen: "Aber ich sehe, dass die meisten von ihnen Männer mit großer Kampferfahrung sind. Man sieht ihnen an, dass sie den Krieg lieben. Und ich bin Kämpfern begegnet, die aus Ossetien kommen, also aus dem Nordkaukasus."
Überall, so erzählt er, würden Männer angeworben, um für die Separatisten zu arbeiten: "Mir selbst wurden 200 US-Dollar dafür angeboten, ein Kämpfer zu werden. Sie sagten zu mir, ich würde das Geld bekommen, sobald ich ein Gewehr in die Hand nehme."
Doch was hat die Regierung diesen Kämpfern, die von außen ins Land geschleust werden, überhaupt entgegenzusetzen? Lidiya Huzhva beobachtet als Journalistin den "Anti-Terror-Einsatz" der Regierung in der Gegend um Donezk. Sie nennt sich selbst eine "Aktivistin": Sie war schon vor Monaten bei den ersten Maidan-Protesten dabei. Aus ihrer Sicht ist das, was in der Ukraine stattfindet, auch ein Krieg der Informationen. Die russischen Medien streuten gezielt falsche Informationen, sagte sie im DW-Interview. Es sei ihr ein Anliegen, diesen Berichten ihre Sicht der Dinge vor Ort entgegenzusetzen.
Lidiya Huzhva ist derzeit mit einer Freiwilligeneinheit der Polizei unterwegs, die ihre Einsätze von ihrem Standort etwas außerhalb von Donezk aus plant. "Immer wieder finden dann von dort aus Operationen in Donezk statt. Sie entführen Kämpfer von der Gegenseite und greifen die Separatisten an." Ob sie damit wirklich erfolgreich sein werden, kann die Journalistin auch nicht sagen. Sie hält es aber für richtig, dass die Regierung nun auch mit militärischen Mitteln eingreift. "Es ist wichtig, dass die Menschen hier den Eindruck bekommen, dass die Ukraine etwas tut." Sie glaubt, dass auch die Bevölkerung immer mehr begreift, dass die Separatisten ihnen keineswegs ein besseres Leben bringen: "Bisher haben sie geglaubt, dass ihre Situation nicht mehr schlimmer werden kann. Aber jetzt merken sie, dass sie doch schlimmer geworden ist: In der selbst ernannten 'Republik Donezk' beherrschen Kriminelle die Straßen, und die Menschen beginnen zu erkennen, dass im Vergleich zu der Situation, die jetzt hier herrscht, das Leben als Teil der Ukraine doch nicht so schlecht war."
Fehlende Waffen, keine Führung
Aus militärischer Sicht sieht sie den Einsatz kritischer: "Die ukrainischen Kräfte sind viel schlechter bewaffnet. Die Separatisten erhalten ständig Hilfe aus Russland, sie haben die neuesten Waffen, und ständig kommen neue Kämpfer über die Grenze. Die Ukraine ist gar nicht in der Lage, da mitzuhalten." Es fehle nicht nur an geeigneten Waffen, sondern auch an einer klaren Führungsstruktur.
Sicher ist, dass die Situation auch in Donezk zunehmend außer Kontrolle gerät. Immer mehr bewaffnete Kämpfer sind dort unterwegs. Den Menschen sei es untersagt, auf die Straßen zu gehen, weil sie entführt oder beschossen werden könnten, erzählt Lidiya Huzhva. Und auch hier verlassen immer mehr die Stadt, die meisten in Richtung Westukraine. "Alle, die eine Möglichkeit hatten zu gehen, etwa zu Familienangehörigen, sind schon weg. Die Menschen, die jetzt noch in Donezk bleiben, sind diejenigen, die überhaupt nicht wissen wohin." Der Fotograf Petr Shelomovskiy sieht das ähnlich: "Alles weist darauf hin, dass sich die Situation zuspitzt und Donezk zu einem neuen Slowjansk wird." Internationale Hilfsorganisationen befürchten ebenfalls, dass es in den kommenden Wochen in der Ostukraine zu einer Flüchtlingswelle kommen könnte - ähnlich wie auf der Krim, aus der bisher rund 10.000 Menschen geflohen sind, die meisten von ihnen Krimtataren.
Die meisten Menschen, die bisher aus den umkämpften Gebieten fliehen, tun das allerdings nur vorübergehend, sagt Petr Shemomovski. "Viele Familienväter fahren jeden Tag zurück nach Slowjansk, um in ihren Häusern nach dem rechten zu sehen - noch."