Wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind
6. Mai 2022"Vor dem Haus stand ein Pferdewagen. Und ein fremder Mann trug Sachen aus unserem Haus heraus und lud sie auf, unsere Sachen." Giselle Cycowicz (Titelbild) ist 95 Jahre alt, von kleiner Statur. Vor dem Gespräch hatte sie Mühe, aus dem Rollstuhl aufzustehen und sich neben die Moderatorin auf den Stuhl zu setzen. Aber dann, als sie aus ihrer Kindheit erzählt, klingt ihre Stimme jung und sie nimmt die Zuhörer mit hinein in die Zeitgeschichte. Wie ihre Schwester Helen den Raubzug, die Plünderung beobachtete. "Stellen Sie sich vor, ein zwölfjähriges Mädchen sieht das. Jedes jüdische Haus im Ort wurde geplündert."
Giselle Cycowicz ist mit ihren 95 Jahren aus Jerusalem nach Berlin gekommen, um zu erinnern. Nach wenigen Sätzen in holprigem Deutsch wechselt sie ins Englische. Sie spricht von der Zeit der Schikanen, des Leides und des alltäglichen Judenhasses während ihrer Kindheit in Chust, einem Ort damals im Osten der Tschechoslowakei gelegen, heute im Westen der Ukraine. Und von dem Weiterleben nach der Zeit in Auschwitz. Giselle und ihre Schwester überlebten, wanderten im Mai 1945 nach der Befreiung 600 Kilometer gen Chust. "Wir hatten doch keinen anderen Ort." Sie fanden die Mutter und erfuhren vom Schicksal ihres Vaters, den die Nazis in Auschwitz ermordet hatten.
"Humanistische Bildung"
Die alte Dame erzählt bei einer Tagung der "Barenboim-Said Akademie" und von "Amcha Deutschland" im Boulez-Saal zum Thema "Leben mit dem Holocaust". Der eine Träger, die 2015 gegründete Akademie, bildet junge Musikerinnen und Musiker aus dem Nahen Osten aus und will, wie es zur Tagung heißt, die musikalisch-künstlerische Ausbildung mit humanistischer Bildung verbinden"; wegen des 1999 gegründeten West-Eastern Divan Orchestra ist die Arbeit auch international bekannt. Der andere, "Amcha", ist seit langem, ausgehend von der Arbeit mit Holocaust-Überlebenden, in der Trauma-Bewältigung engagiert.
"Leben mit dem Holocaust" - dieser Titel irritiert, und er passt. Das zeigt, unter anderem, das Erzählen von Giselle Cycowicz. Die Holocaust-Überlebende ging mit ihrer Mutter und zwei Schwestern 1948 in die USA, heiratete bald, bekam drei Kinder – und sprach nie mehr groß von der Zeit des Hasses und der Verfolgung, der Zeit in Auschwitz.
Das Lebensthema
1969 begann die damals 42 jährige Cycowitz in New York ein Psychologiestudium und arbeitete später als Psychologin. Aber erst als sie 1996, nach dem Tod ihres Mannes nach Israel ging, sprach sie erstmals über ihre Holocaust-Erinnerungen. Es sei ihr schwergefallen, sie habe nicht gewusst, wie die Menschen reagieren. "So habe ich mich entschieden, eine kurze Biographie meiner Shoa-Zeit zu schreiben, eine Seite oder anderthalb." Sie lernte, davon zu sprechen. Das Thema ihres Lebens wurde, als Psychologin, ihr Lebensthema. Sie begleitet Überlebende, die schwiegen. "Ich arbeite mit dem Thema Shoa seit bald 30 Jahren."
Giselle Cycowicz ist Zeitzeugin. Eine derer, die die Gräuel der Nazis, den Holocaust überlebte und berichten kann. "In Israel", sagt der Historiker Tom Segev bei der Tagung, "leben noch rund 160.000." Die Schar derer, die noch berichten, Zeugnis ablegen können, schwindet. In Berlin starb im März im 100. Lebensjahr Inge Deutschkron, die in Berliner Verstecken die Nazi-Zeit überlebte. Vier Tage später starb in Potsdam Leo Schwarzbaum (101, siehe Video-Interview unter dem Beitrag), der in Auschwitz und Sachsenhausen war. Holocaust-Überlebende sind große Zeugen.
Seit 25 Jahren kommt jeweils ein Überlebender Ende Januar in den Bundestag und spricht in der "Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus". Und zu den rührenden Geschichten im schrecklichen Leid des ukrainischen Volkes gehört das Schicksal der Nazi-Opfer, die nun aus dem Land gerettet werden und nach Deutschland kommen.
Was passiert, wenn es die Zeitzeugen nicht mehr gibt? Zu jedem Gedenktag kommt diese Frage auf. Irgendwann endet das Zeugnis, das - wie bei Giselle Cycowicz - in seiner Authentizität so bewegend ist.
Das Verschweigen
Und die Frage klingt meist besorgt. Andere Aspekte sprachen indes Expertinnen und Experten bei der Tagung an. Der Jenaer Historiker Norbert Frei meinte, seit rund 25 Jahren gehe es immer mal wieder um diese Frage; der Einsatz der Zeitzeugen sei aus seiner Sicht "auch etwas Bequemes gewesen". Die Psychologin Marina Chernivsky von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland fragte: "Sind wir unfähig, uns unserer eigenen familiären Vergangenheit zu stellen ohne die Juden?" Und die Publizistin Alexandra Senfft, die selber Nachfahrin eines "Täters" in der Nazizeit ist, verwies darauf, dass bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre "niemand die Zeitzeugen" hören wollte. Das Verschweigen der Opfer passt zum Schweigen der Täter.
Und auch zum Schweigen der Opfer. Die "Nachgeborenen" Rachel Salamander und Michel Friedman, 1949 in Deggendorf und 1956 in Paris als Kinder von Holocaust-Überlebenden geboren, erlebten es im Aufwachsen. "Es wurde hart geschwiegen", sagte Salamander. "Und man trug das auch den Kindern auf, vor allem, keine Fragen zu stellen." Friedman sprach davon, er sei "auf einem Friedhof aufgewachsen". Das Verschweigen der Familiengeschichte, das Mitschweigen in der Tätergesellschaft.
Irgendwann verwendet jemand das Wort "Gefühlserbschaften". In diesem Deutschland, in dem es einen verfestigten Rechtsextremismus und Antisemitismus gibt. Auch heute gehe es darum, junge Leute zur Spurensuche zu ermutigen, zum Nachfragen. Sei es zur eigenen Familiengeschichte, sei es zur lokalen Umgebung im heimatlichen Umfeld. Redet! Fragt! Dabei geht es nicht nur um jüdische Holocaust-Erinnerungen. Bei der Tagung sprach auch Tayo Awosusi-Onutor. Die deutsche Soulsängerin setzt sich für die Erinnerung und Rechte der Roma und Sinti ein. "Es ist wichtig, dass diese Geschichten erzählt werden, damit sie nicht vergessen werden, nie." Und man solle mit Betroffenen reden, nicht nur über sie.
Giselle Cycowicz wurde erst Mitte der 1990er Jahre in Israel sprechfähig. Seit 23 Jahren arbeitet sie dort für die Organisation "Amcha" (hebräisch für "Dein Volk"), die sich um psychosoziale Hilfe für Holocaust-Überlebende und deren Nachkommen kümmert. 1987 entstand ein erstes "Amcha"-Zentrum in Jerusalem, in ganz Israel gibt es heute 15 solcher Einrichtungen.
Worum es bei dieser Arbeit geht, das benennt der Vorstand von "Amcha Deutschland", Lukas Welz: lebenslange Belastungen, Depressionen, auch Suizidversuche. Wer als Holocaust-Überlebender bei Raketenangriffen in Israel im Bunker gesessen habe oder in der Ukraine im Keller nächtige, bei dem könnten Traumata geweckt werden. Dann sei ein alter Mensch plötzlich wieder Kind im Ghetto. Welz ist auch Geschäftsleiter der "Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer" (BAfF). Irgendwann erwähnt er, ohne Häme, seit 2021 übernehme die Bundesregierung Verantwortung auch für die psychosoziale Versorgung der Nachkommen Überlebender, die in einem von der Shoa schwer belasteten Elternhaus aufwuchsen. Seit einem Jahr also, 76 Jahre nach Ende des Holocaust.
Eine Tagung von acht Stunden über ein sehr deutsches Thema. Denkt man. Doch einige Male in den Gesprächen kommt der Blick zu dem, was derzeit in der Ukraine passiert. Militärische Gräueltaten, Vertreibungen, Traumata. "Mit dem Krieg", sagt der Historiker Jacob Eder von der "Barenboim-Said Akademie", "rückt ein zentraler Ort des Holocaust und anderer deutscher Kriegsverbrechen wieder in den Mittelpunkt." Eder sieht derzeit eine "besondere deutsche Verantwortung". Und der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, 1947 in der Schweiz geboren und 1952 mit den jüdischen Eltern nach Deutschland zurückgekehrt, sagt, seit dem Angriff Putins auf die Ukraine müsse er "unaufhörlich" an die Jahre 1938/39 und das zögerliche Handeln der Staatengemeinschaft gegen Nazi-Deutschland denken. "Was, wenn es gelungen wäre, Hitler in die Schranken zu weisen?" Er sei deshalb für die Lieferung schwerer Waffen an Kiew. Der Psychiater Martin Auerbach, klinischer Direktor von "Amcha", verweist auf die sexuelle Gewalt durch russische Soldaten; seine Organisation habe bereits Fachleute in die Nachbarländer der Ukraine entsandt.
Auch Cycowicz beschäftigt der Ukraine-Konflikt, "dieser Krieg aus heiterem Himmel", wie sie sagt. Es seien schlimme Bilder. Aber besondere Emotionen spüre sie nicht. Denn für sie "gehören Ausgrenzung und Judenhass zu den alltäglichen Szenen meiner Kindheit".