Wenn die Natur den Tourismus braucht
7. Juli 2021Für die Trottellummen auf der schwedischen Insel Stora Karlsö in der Ostsee war der vergangene Sommer kein guter. Ihr Bruterfolg brach um mehr als ein Fünftel ein. Der Grund: Wegen des Lockdowns blieben die Touristen aus.
In anderen Jahren ist das gerade einmal 2,5 Quadratkilometer große Eiland die meistbesuchte Seevogelkolonie in der Ostsee. Wenn sich viele Tagestouristen auf Stora Karlsö aufhalten, machen Seeadler üblicherweise einen Bogen um die kleine Insel. Im vergangenen Sommer aber jagten die Raubvögel viel häufiger als sonst an der Küste von Stora Karlsö und scheuchten die brütenden Trottellummen auf. Die Folge: Viele Eier rollten die Klippen herab oder wurden von Möwen und Krähen gefressen. Aus Thailand und Indien gab es Berichte über hoch aggressive Affenhorden, die um rar gewordenes Futter kämpften. Das bekamen sie sonst von den vielen Touristen, die zuletzt ausblieben.
Die Umwelt atmet ohne Touristen auf
Anderswo aber erholten sich Flora und Fauna während der Lockdowns. So konnten Schildkröten ungestört von Touristen an Stränden nisten, Zwergfledermäuse auf leeren Parkplätzen übernachten und an den Küsten von Hongkong wurden laut lokaler Zeitungsberichte dank des ruhenden Schiffverkehrs deutlich mehr weiße Delfine gesichtet.
Auch in Sachen CO2-Ausstoß gab es 2020 ein kurzes Aufatmen: Der Ausstoß von Kohlendioxid durch die Luftfahrt sank wegen des reduzierten Flugverkehrs laut dem Forschungsnetzwerk Global Carbon Project weltweit um rund 22 Prozent. Doch dieser Effekt dürfte nach Aussagen von Beobachtern nicht von Dauer sein. Gegen Ende vergangenen Jahres näherten sich die Gesamt-CO2-Emissionen wieder dem Vorjahresniveau an.
Diesen kurzfristigen positiven Effekten stehen langfristige negative Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Tourismus und damit vielerorts auch auf die Natur gegenüber.
Billionen-Verluste ohne Tourismus
Nach Angaben der Weltorganisation für Tourismus der Vereinten Nationen, UNWTO, gingen internationale Touristenankünfte im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum weltweit um 73 Prozent zurück.
Durch diesen massiven Einbruch sind weltweit etwa 197 Millionen Arbeitsplätze sowie 5,5 Billionen US-Dollar an Einnahmen verloren gegangen, schätzt der World Travel and Tourism Council (WTTC), ein Zusammenschluss der privaten Reisebranche. Diese Einnahmeverluste sind fünfmal so hoch wie die durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2009.
Ganz besonders hart wurde der naturbasierte Tourismussektor getroffen - mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen der Menschen vor Ort und damit auch auf den Naturschutz.
Arbeitsplatzverluste in Naturschutzgebieten
Weil viele Nationalparks während der Lockdowns geschlossen blieben, brachen deren Einnahmen drastisch ein. In Brasilien gab es nach Angaben des Luc Hoffmann Institutes, einer Stiftung der Naturschutzorganisation World Wildlife Fund (WWF), vom Frühling bis zum Herbst 2020 rund fünf Millionen weniger Besuche in den Nationalparks als sonst. Geschätzte Umsatzeinbußen der Unternehmen, die direkt oder indirekt mit dem Tourismus rund um die Schutzgebiete arbeiten: etwa 1,6 Milliarden US-Dollar. Brasilien rechne mit einem Verlust von 55.000 dauerhaften oder temporären Arbeitsplätzen, so das Institut.
Vor allem Rangerinnen und Ranger seien vom ausbleibenden Tourismus in den Naturschutzgebieten betroffen, sagt Martin Balas, Tourismusforscher an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung im deutschen Eberswalde. "Weltweit ist jeder fünfte Arbeitsplatz in diesem Bereich weggefallen." Besonders drastisch sei diese Entwicklung im Globalen Süden gewesen sowie überall dort, wo der Tourismus die einzige Einnahmequelle für die Menschen sei, so Balas.
Verliert der Mensch, verliert die Natur
Und die Auswirkungen auf die Natur seien teils fatal, erklärt Martina von Münchhausen, Tourismusexpertin beim WWF Deutschland. "Ob am Mittelmeer, im Kaukasus, in Afrika oder in Mittelamerika, überall sind Lebensentwürfe, die auf dem Tourismus basieren, zusammengebrochen. Weil das Geld aus den Jobs fehlt, kehren die Menschen vielfach wieder zur Landwirtschaft oder Viehzucht zurück. Teilweise wird dafür Wald gerodet oder es entstehen Zäune, wo eigentlich Korridore für Wildtiere waren."
Und das heizt Mensch-Wildtier-Konflikte auch dort wieder an, wo sie zuvor durch Einnahmen aus den Schutzgebieten und dem Tourismus abgemildert waren. Zu den Folgen gehören etwa getötete Elefanten in Kambodscha und Äthiopien sowie erlegte Tiger in Indien, wie das international tätige Luc Hoffmann Institut in einem Bericht über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Natur auflistet.
Die weitreichenden Abriegelungen in der Pandemie hätten den Druck auf Schutzgebiete und Nationalparks zusätzlich verstärkt, berichtet Ina Lehmann, zuständig für Biodiversitätspolitik beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE).
"Auch in den Städten haben die Menschen Arbeit und ihr Einkommen verloren. Weil es in vielen Ländern des globalen Südens kaum staatliche soziale Sicherungssysteme gibt, sind viele wieder in ihre Heimatdörfer auf dem Land zurückgekehrt."
Dort hätten die Menschen nicht nur Land für Ackerbau und Viehzucht umgewandelt, sondern auch wieder mehr Wildtiere gejagt, um zu überleben, so Lehman. Auch die kommerzielle Wilderei habe zugenommen, weil Geld für die Überwachung der Schutzparks fehlte, zum einen durch geringere Tourismuseinnahmen, zum anderen seien Gelder in den Gesundheitssektor umgeleitet worden.
Kommerzielle Wilderei nahm in der Pandemie auch in Europa zu. Und auch hier mussten Einrichtungen für den Naturschutz zumindest zeitweise schließen, wie auch einige Bildungseinrichtungen der deutschen Umweltorganisation BUND. "Wie sehr die Umweltbildung fehlte, konnten wir an deutlich mehr Müll an den Stränden sehen", berichtet Stefanie Sudhaus, Meeresschutzreferentin beim BUND Schleswig-Holstein. "Nur was ich kenne und verstehe, kann ich schätzen und schützen".
"Internationaler Tourismus muss überdacht werden"
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie hätten wie ein Brennglas den Fokus auf all jene Probleme gerichtet, die lange vorher schon bekannt waren, konstatiert Tourismusforscher Martin Balas. "Jeder möchte gerne verreisen - aber so, wie der Tourismus in den vergangenen 50 Jahren gestaltet war, geht es einfach nicht mehr." Gerade der internationale Tourismus müsse neu überdacht werden, mahnt Balas.
Vor allem afrikanische Staaten seien derzeit stark von internationalen Auslandstouristen abhängig. Doch langsam setze ein Umdenken ein, sagt der Tourismusforscher. So versuche Kenia, einen kontinentalen und regionalen Tourismus zu fördern. Dafür müssten aber neue Konzepte entwickelt werden: Hotels müssten künftig etwa Mehrbettzimmer für afrikanische Familien statt klassischer Zweibettzimmer für europäische Paare anbieten.
Doch das Problem: In vielen Staaten haben Inlandstouristen weniger Einkommen als internationale Touristen und bringen damit weniger Geld in Touristenregionen. In Costa Rica etwa zahlen heimische Besucher laut einer Veröffentlichung der Weltnaturschutzunion (IUCN), der Dachorganisation internationaler Naturschutzverbände, für den Eintritt in die Nationalparks nur 20 Prozent dessen, was internationale Besucher entrichten.
Das bedeute, dass die Wirtschaft an den Tourismuszielen viel stärker diversifiziert werden müsse, sagt Balas. "Nicht erst die Pandemie hat gezeigt: Wenn alles vom Tourismus abhängt, dann stirbt der Tourismus." Je mehr tourismus-unabhängige Angebote eine Zielregion biete, desto interessanter werde sie.
Und auch für Zeiten ohne Tourismus müsse man sich wappnen. "Wenn ein Hotel selbst angebautes Gemüse auf der Speisekarte hat, kann es damit bei seinen Gästen punkten. Und wenn keine Touristen kommen, hat es ein zweites Standbein und kann das Gemüse auf lokalen Märkten verkaufen."
Besucher lenken, Natur schützen
Einige Nationalparks und Schutzgebiete haben die Corona-Zwangspause im Sommer 2020 genutzt, um eine Neuausrichtung zu beginnen. So wurden in Ecuador neue Richtlinien für den Nationalpark der Galapagos-Inseln entwickelt. Produkte und Dienstleistungen sollen breiter aufgestellt werden, um neue Einkommensmöglichkeiten vor Ort zu schaffen. Für stark besuchte Orte sind künftig Reservierungen nötig.
Im Tusheti-Nationalpark in Georgien sollen neu angelegte Wanderwege und andere touristische Infrastruktur helfen, Besucherströme besser zu lenken und so die Natur vor Übertourismus zu schützen. Und inspiriert von den unglücklichen Trottellummen in der Ostsee wollen Wissenschaftler erforschen, ob sich Touristen auch an anderen Orten als Seevogelschützer gegen Adlerstörungen nützlich machen können.