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Wenn der Pater containert

18. Januar 2022

Gemüse, Brot, Käse: Das hat Jörg Alt aus Müllcontainern von Supermärkten "containert". Nun wird gegen den Jesuiten ermittelt. Er ist nicht der einzige Ordensmann, der sich für seine Überzeugungen mit der Justiz anlegt.

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Deutschland, Nürnberg | Containernder Pfarrer Jörg Alt
Containernder Pfarrer: Jesuitenpater Jörg Alt bei einer Lebensmittel-RettungsaktionBild: Valeska Rehm/epD

Jörg Alt hat Recht gebrochen. Gegen den 60-jährigen katholischen Geistlichen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Diebstahls in besonders schwerem Fall. Dafür hat sich der Ordensmann sogar selbst angezeigt.

Alt hat "containert". Das heißt, er hat aus Abfallcontainern von Supermärkten Lebensmittel herausgeholt, die zur Vernichtung bestimmt waren. Entweder waren Obst und Gemüse nicht mehr ausreichend frisch zum Verkauf oder Verpackungen waren beschädigt, Mindesthaltbarkeitsdaten überschritten. Und dann hat der Ordensmann sie wieder an Menschen verteilt.

Priester Jörg Alt
Der Jesuit Jörg Alt will für seine Überzeugungen auch vor Gericht einstehenBild: Müller-Stauffenberg/imago

12 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll

Supermärkte "entsorgen" die Ware dann im Müll. Und gelegentlich bergen Menschen die Ware aus dem Abfall. Sie "retten" sie, wie sie selbst sagen. In Deutschland ist dieses Containern nicht erlaubt. Wer Lebensmittel aus Supermarkttonnen holt, begeht Diebstahl. Denn solange die Müllabfuhr die Container nicht geleert hat, bleibt der Inhalt Eigentum des Supermarkts. Es gibt auch hygienische und gesundheitliche Vorbehalte gegen das Containern. Nach Angaben der Welthungerhilfe werden in Deutschland rund 12 Millionen Tonnen Lebensmittel insgesamt verschwendet. 

Alt will das ändern. Er nennt im Gespräch mit der Deutschen Welle drei Ziele oder Forderungen: "Die erste Ebene ist die Entkriminalisierung von Containern. Das zweite ist ein Gesetz gegen Überproduktion, Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln. Und das dritte ist, darauf aufmerksam zu machen, dass wir uns dem Klimawandel ernsthafter stellen müssen."

Debatte über die Überfluss-Gesellschaft

Alt, der den Jesuiten angehört, der größten katholischen Ordensgemeinschaft, will die Öffentlichkeit dafür sensibilisieren. Nachdem er vor Weihnachten seine Aktion startete, fanden sich rasch Nachahmer, die in anderen Städten "containerten". Reihenweise gibt Alt in Medien Interviews. Und bei Twitter hat er nun statt 30 Followern mehr als 10.400. Der Geistliche will vor Gericht durchfechten, dass das Containern offiziell erlaubt wird und damit eine Debatte über Überfluss und Vernichtung von Lebensmitteln entfachen.

Deutschland, Nürnberg | Containernder Pfarrer Jörg Alt
Jörg Alt (links) sichert Lebensmittel, um sie an Bedürftige zu verteilenBild: Valeska Rehm/epD

Schon mehrfach hat sich der Ordensmann politisch engagiert und Aufsehen erregt. In den 1990er Jahren koordinierte er den "Initiativkreis für das Verbot von Landminen". Nach 2003 sorgte er für eine gesellschaftliche Debatte über "Leben in der Illegalität", über Menschen, die in Deutschland lebten, aber nicht dort leben durften. Im Wikipedia-Text zu Jörg Alt steht unter anderem "Priester und Hochschulseelsorger sowie gesellschaftspolitischer Aktivist".

Der Papst und die Radikalität

Auf die Frage, warum er als Kirchenmann radikal handele, zitiert Alt wie aus der Pistole geschossen einen prominenteren Jesuiten: Papst Franziskus betonte 2014 in einem offiziellen Schreiben, von Ordensleuten werde "auf besondere Art, auf prophetische Weise evangeliumsgemäße Radikalität" erwartet. Es gehe darum, "das Übel der Sünde und die Ungerechtigkeiten öffentlich anzuklagen".

webstream Papst Franziskus
Papst Franziskus: Radikal handeln um Ungerechtigkeiten anzuprangern

Solch "radikales Handeln" kommt in der Tat häufiger von Ordensleuten als von anderen Geistlichen oder kirchlichen Laien. Und manchmal könnte man meinen, dass die Fälle zunehmen, in denen Ordensleute sich mit dem Staat, mit der Justiz anlegen. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte Kirchenasyl: Die vorübergehende Aufnahme und der Abschiebe-Schutz von Flüchtlingen durch eine Pfarrei oder Kirchengemeinde, wenn begründete Zweifel an ihrer gefahrlosen Rückkehr bestehen.

Aufsehen um Kirchenasyl-Streit

Seit vielen Jahren streitet die Politik mit den Kirchen um diese Praxis, für die keine gesetzliche Grundlage besteht. Dabei gibt es stets eine Reihe von Fällen, in denen diese Praxis geduldet wird. So sorgten mehrere Gerichtsverfahren in Bayern, bei denen Ordensleute vor Gericht standen, für bundesweite Schlagzeilen. Nach wie vor offen ist das weitere Verfahren gegen eine Benediktiner-Äbtissin aus Kirchschletten bei Bamberg, die nach einem Strafbefehl die Zahlung einer Geldstrafe von 2500 Euro verweigert hatte. Auch eine Franziskanerin aus Oberzell bei Würzburg und ein Benediktiner aus Münsterschwarzach warten nach ersten Gerichtsentscheidungen auf weitere Verfahrensschritte.

Ausländer im Kirchenasyl, Kirche in Trier
Eine Familie, die im Kirchenasyl Zuflucht gesucht hatBild: Harald Tittel/picture-alliance/dpa

Schwester Klarissa Watermann sieht, dass es heute mehr solcher Fälle gibt, in denen Ordensleute sich mit dem Staat streiten. Sie würde vielleicht auch sagen "wieder mehr", denn die heute 69-jährige Dominikanerin, die derzeit in Hamburg ein Sozialprojekt "Klaras Küche" für Bedürftige aufbaut, hat selbst jahrzehntelang Erfahrung mit zivilem Ungehorsam und Protesten mit Signalwirkung.

Protest von Ordensleuten gegen Atomwaffen

In den 1980er Jahren zog Watermann mit weiteren Ordensleuten in Hasselbach im Hunsrück vor das Militärgelände, auf dem die US-Armee Pershing-2-Raketen stationierte. Ein Franziskaner durchschnitt sogar den Zaun der Absperrung; eine Form des Protests, den Ordensleute in den USA auch schon gewählt hatten. "Das war für mich ein prophetisches Zeichen für die, die durch diese Politik der Aufrüstung Leid zu ertragen hatten", sagt Watermann der Deutschen Welle.

Zehn Jahre später kettete sie sich sich als Mitglied der Initiative "Ordensleute für den Frieden" an den Zaun der Deutschen Bank in Frankfurt. "Ich stand da nicht für mich, sondern für die Menschen, die an unserem Wirtschaftssystem leiden. Und ich habe da immer gebetet."

Deutschland | Protest der Initiative Ordensleute für den Frieden
Schwester Klarissa Watermann 2015 vor der Deutschen Bank in FrankfurtBild: Thomas Rohnke/epd/imago

Aber am meisten bewegt sie ein von ihr früher betreutes Kirchenasyl für eine kurdische Familie in ihrem Dominikanerinnen-Kloster in Schwalmtal bei Viersen am Niederrhein. Die Polizei beendete das Engagement der Schwestern gewaltsam und holte schließlich die Familie ab - aus der Hauskapelle des Klosters. Die Nonnen blieben machtlos, trotz Blockade-Streiks. "Ich habe den Schwestern vorher extra gezeigt, wie man sich einhakt und wie man sich wegtragen lässt", erinnert sich Schwester Klarissa.

Die Schwestern beteten den Rosenkranz als die Polizisten sie wegtrugen. "Irgendwann haben sie mir den Schleier vom Kopf gezogen. Da habe ich gesagt: Das geht gar nicht." Schließlich landeten die Männer der kurdischen Familie in Abschiebehaft, die Frauen wurden weiter geduldet.

Nonne von Myanmar bewegt weltweit

Die deutsche Ordensfrau Klarissa Watermann erinnert auch an eine Szene, die 2021 Menschen weltweit bewegte. Es zeigt die Nonne Ann Rose Nu Tawng. Sie kniete sich in Myanmar betend vor Polizisten, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern und das Leben protestierender Jugendlicher zu schützen. Die Polizei, so Nu Tawng, solle sie erschießen, nicht die jungen Leute. Das Bild ging um die Welt. Auch Papst Franziskus würdigte ihren Einsatz als beispielhaft. Und Ende 2021 wählte der britische Sender BBC die Ann Rose Nu Tawng als eine der "100 einflussreichsten Frauen 2021" aus.

Myanmar | Nonne kniet vor Polizei
Die Ordensfrau Ann Rose Nu Tawng kniet vor die Polizei in MyanmarBild: MYITKYINA NEWS JOURNAL/REUTERS

Für Schwester Klarissa kann ein solches "prophetisches Zeichen" eher von Ordensleuten als von anderen Menschen kommen. "Ordensleute sind ja in einer ganz eigenen Sicherheit. Sie gefährden nie eine ganze Familie", sagt sie. "Mein Leben ist mir nicht so kostbar. Ich verliere nichts." Und dann schaut sie in die Gegenwart: "Manches Mal in diesen Wochen habe ich gedacht, ich müsste eigentlich an der Grenze zwischen Belarus und Polen sitzen. Aber irgendwann kann man da nur noch dafür beten."

Mitte Januar wurde von einem Londoner Gericht übrigens Martin Newell, ein Geistlicher des Passionisten-Ordens, freigesprochen. Er hatte mit anderen 2019 im Rahmen eines "Extinction Rebellion"-Protests Bahngleise blockiert.

Deutschland, Nürnberg | Containernder Pfarrer Jörg Alt
Der Pater und der Staat: Jörg Alt (rechts) in NürnbergBild: Valeska Rehm/epD

Und nun der containernde Pater in Nürnberg. Ziviler Ungehorsam, sagt Jörg Alt, helfe, die Menschen wachzurütteln. "98 Prozent" der Reaktionen, die er auf sein Handeln erhalte, seien positiv. "Die Leute sagen, dass sie die Aktion richtig, wichtig und passend finden." Endlich werde Kirche mal wieder ihrem Auftrag gerecht. Kirche, die im Missbrauchsskandal jeden Kredit verspielt. Alt: "Mein Lieblingsspruch ist: Endlich wird mal wieder ein Priester wegen einer guten Sache angeklagt."