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Perverse Logik der Wegwerfgesellschaft

18. August 2020

Wer Lebensmittel aus Müll-Containern von Supermärkten rettet, macht sich strafbar, sagt nun sogar das Bundesverfassungsgericht. Ein völlig aus der Zeit gefallener Beschluss, meint Marcel Fürstenau.

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Zwei junge Männer durchsuchen in Münster (Westfalen) Müllcontainer von Supermärkten nach Lebensmitteln
Lebensmittel, die im Müll landen sollen, können durch "Containern" gerettet werdenBild: DW

Nun hat sogar das Bundesverfassungsgericht einem gesellschaftspolitischen Skandal ersten Ranges seinen Segen erteilt. Die höchste juristische Instanz Deutschlands veröffentlichte am Dienstag ihren ablehnenden Beschluss zum sogenannten "Containern". So wird das Retten von Lebensmitteln aus Abfall-Containern von Supermärkten bezeichnet. Kaum zu glauben, aber wahr: Wer Obst und Gemüse, Brot, Käse oder was auch immer an Essbarem vor der sinnlosen Vernichtung bewahrt, begeht in Deutschland eine Straftat.

Zwei junge Frauen, Caroline und Franziska, wurden deshalb 2019 vom Amtsgericht Fürstenfeldbruck (Bayern) wegen Diebstahls verurteilt: acht Stunden Sozialarbeit und 225 Euro Geldstrafe, wenn auch auf Bewährung. Aber die beiden Studentinnen wollten dieses Urteil nicht einfach schlucken und legten Verfassungsbeschwerde ein. Die wurde nun unter anderem mit der Begründung abgelehnt, der Gesetzgeber dürfe Eigentum "grundsätzlich auch an wirtschaftlich wertlosen Sachen strafrechtlich schützen".

Lebensmittel-Retter werden wie Verbrecher behandelt

Die dahinter steckende Logik muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Lebensmittel werden von Supermarkt-Betreibern zu "wirtschaftlich wertlosen Sachen" erklärt, weil die Bananen bräunliche Flecken, Äpfel Druckstellen oder Milch und Käse das Haltbarkeitsdatum überschritten haben. Dass sie dennoch genießbar und für die Gesundheit unbedenklich sind, spielt keine Rolle. So weit, so schlecht. Doch das Allerschlimmste: Wer aus der vermeintlichen Not der Supermärkte eine Tugend macht, indem er die Lebensmittel auf den eigenen Küchentisch oder jenen bedürftiger Menschen umleitet, muss sich wie ein Verbrecher fühlen.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
DW-Redakteur Marcel FürstenauBild: DW

Zur Ehrenrettung des Bundesverfassungsgerichtes muss gesagt werden, dass es nach rein formalen Kriterien entschieden hat. Einen Verstoß gegen geltendes Recht konnte es nicht feststellen, weil das sogenannte Containern leider immer noch strafbar ist. Doch das ließe sich ändern. Ein Blick ins benachbarte Frankreich reicht, um zu sehen, wie. Dort müssen Supermärkte schon seit 2016 Lebensmittel, die sie für unverkäuflich halten, an soziale Einrichtungen wie die auch hierzulande bekannten "Tafeln" spenden. 

Die Politik muss Worten Taten folgen lassen

Doch Deutschland tut sich weiterhin schwer, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Und das, obwohl Schätzungen des World Wildlife Funds (WWF) zufolge jährlich bis zu 18 Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall landen. Dabei gibt es auch in diesem reichen Land Millionen Menschen, die zu wenig oder gar kein Geld für ihr täglich Brot haben. Ganz zu schweigen von den rund 800 Millionen Hungernden und Verhungernden in den ärmsten Regionen der Welt.

Die deutsche Politik muss ihren Worten endlich Taten folgen lassen. Als Anleitung eignet sich die 2019 vom Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft veröffentlichte "Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung". Da stehen viele richtige und wichtige Dinge drin - zum Beispiel: "Die Herstellung von Lebensmitteln beansprucht wertvolle Ressourcen wie Boden, Wasser, Energie und Treibstoff und ist mit Emissionen von Treibhausgasen verbunden. Daher sollten Lebensmittel nicht unnötig verloren gehen oder verschwendet werden."

Strafbarkeit von "Containern" gehört in die Tonne!

Problem erkannt, aber leider noch nicht einmal ansatzweise gebannt. Und das schon seit vielen Jahren. Denn bereits seit 2012 informiert die Bundesregierung unter dem Motto "Zu gut für die Tonne!" über Ursachen der Verschwendung von Lebensmitteln und Möglichkeiten, sie zu reduzieren. Gefragt ist natürlich auch jeder Einzelne. Aber die Politik muss den Rahmen setzen. Es wäre ein Leichtes, das Containern zu entkriminalisieren. Immerhin gibt es kleine Lichtblicke: So empfiehlt der Justizsenator des Stadtstaates Hamburg der Staatsanwaltschaft, angezeigte Fälle von Containern nicht zu verfolgen.

Empfehlungen alleine aber sind zu wenig, um den Skandal aus der Welt zu schaffen. Containern, also das Retten von Lebensmitteln, ist ethisch, ökologisch und ökonomisch eine Wohltat. Es verdient breite gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung. Aber so lange sich politisch Verantwortliche hinter fragwürdigen Gesetzen zum Schutz des Eigentums verstecken, müssen sie sich den Vorwurf der Tatenlosigkeit gefallen lassen.

Die gescheiterte Beschwerde hat auch ihr Gutes

Containern muss straffrei werden! Die verurteilten Studentinnen, die nun leider vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert sind, haben mit ihrer Beschwerde einen frischen Blick auf einen schon lange währenden Skandal gelenkt. Mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Der eingetragene Verein unterstützt Verfahren, um Grund- und Menschenrechte gegen staatliche Verletzungen zu verteidigen. Das Verbot, zu Containern, ist so eine Verletzung.               

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland