Wenn das Radio Schule macht
2. August 2015Einmal quer durchs trockene Maisfeld, schon ist sie da. Astrida Zyingobos Schulweg ist kurz, ihr Klassenzimmer: ungewöhnlich. Die Schultafel lehnt am Stamm eines mächtigen Marula-Baums, statt auf Stühlen sitzen die neunjährige Astrida und ihre 51 Mitschüler auf Steinen. Tische gibt es nicht. Der Unterricht findet komplett im Freien statt. Und dann ist da noch das tiefblaue Plastikradio, das in der Sonne neben den Sitzreihen steht. Astridas Lehrer Nchimunya Stemon fährt die Antenne aus, stellt geübt die richtige Frequenz ein und platziert den solarbetriebenen Kasten wieder in der prallen Sonne.
Lehrer lernen mit
Es ist kurz vor 10 Uhr, die Stimme aus dem Radio begrüßt die Zweitklässler auf Englisch: "Achtung, der Unterricht geht gleich los." Für die nächsten 35 Minuten wird die Radio-Stimme dem Lehrer genaue Anweisungen geben. Das klingt dann so: "Schreiben Sie den Buchstaben 'e' an die Tafel" oder "Rufen Sie einen Schüler oder eine Schülerin nach vorn." Die Ansagen mögen banal klingen, doch Nchimunya Stemon helfen sie. Ausgebildete Lehrer sind rar in den ländlichen Gebieten Sambias. Auch der 32-jährige Nchimunya hat keine Lehrerausbildung. "Ich habe nicht studiert, aber ich will, dass die Kinder hier mal ein besseres Leben haben als ich", sagt er.
Astrida mit den sorgfältig geflochtenen Zöpfen kennt keinen anderen Unterricht. "Ich komme gerne, weil wir durch das Radio Lesen und Schreiben lernen und ich Mittagessen bekomme", sagt sie. "Ich will mal Lehrerin werden."
Radio erreicht alle
Astrida lebt in der dünn besiedelten Chikuni Region, etwa dreieinhalb Autostunden südöstlich von Sambias Hauptstadt Lusaka. Von ihrem Haus aus sind es acht Kilometer bis zur nächsten regulären Schule. Andere Kinder leben sogar noch weiter entfernt, bis zu 50 Kilometer.
Besonders für Mädchen wie Astrida wäre der Schulweg zu riskant. In der Vergangenheit seien Kinder entführt und vergewaltigt worden, berichtet Father Kelly. Der katholische Priester leitet die insgesamt 18 Radioschulen in der Region. Im Jahr 2000 hat das sambische Bildungsministerium das Programm ins Leben gerufen, finanziert wird es zum größten Teil durch Spenden der christlichen Nichtregierungsorganisation Kindernothilfe in Deutschland. Das vorproduzierte Schulprogramm wird von Montag bis Freitag vom Lokalsender "Radio Chikuni" ausgestrahlt.
Aber wäre es nicht einfacher, CDs oder Kassetten auszuteilen, statt täglich eine Sendung zu fahren? "Dann wäre die Anwesenheitsrate viel niedriger", erklärt Father Kelly. "Der Lehrer könnte einfach sagen, dass er die Stunde später hält. Aber durch die zeitgenaue Ausstrahlung kann er den Unterricht nicht einfach ausfallen lassen, denn die Stunde kommt nicht zurück." Das Prinzip scheint zu funktionieren. Laut Father Kelly schneiden die Schüler in den landesweiten Prüfungen genauso gut ab wie ihre Mitschüler in den regulären Schulen - oder sogar besser.
Englisch, Mathe, Landwirtschaft
Der Unterricht ist in vollem Gange: Unter dem mächtigen Marula-Baum strecken und bücken sich die 52 Kinder, aus dem Radio ertönt ein Lied. Was auf den ersten Blick nach Sport aussieht, ist eines der wichtigsten Fächer auf Astridas Stundenplan: Nachhaltige Landwirtschaft. Spielerisch lernen die Zweitklässler gerade, wie man richtig Samen in die Erde platziert und bewässert.
Die Schulstunde hat einen ernsten Hintergrund: Die meisten Menschen in der Chikuni-Region leben von Viehhaltung und Ackerbau. Auch Astridas Großeltern, mit denen sie in einer einfachen Lehmhütte wohnt, sind Bauern. Schlechte Böden und geringe Niederschläge lassen die Ernten jedoch oft vertrocknen, auch Brandrodung macht die Böden kaputt.
Viele Kinder müssen auf den Feldern mit anpacken. In der Radioschule lernen sie über einen Zeitraum von drei Jahren, wie man Baum-Setzlinge pflanzt und Gemüse gewinnbringend anbaut. "Ich kann meinen Großeltern zeigen, was ich gelernt habe und sie so unterstützen", sagt Astrida stolz.
Unkraut zupfen für die Zukunft
10.35 Uhr: der Theorie-Unterricht ist zu Ende. Astrida übergibt das blaue Radio an die 10. Klasse, die sich wenige Meter entfernt unter einem Reetdach versammelt hat. Hausaufgaben, große Pause, Händewaschen - dann gibt es Mittagessen für Astrida und die anderen. Ihre Großmutter und zwei weitere Frauen aus dem Dorf hieven zwei massive Blechtöpfe von der Feuerstelle. Auf dem Speiseplan steht heute Nshima, ein Brei aus Maismehl und Wasser - dazu gibt's Kohl aus dem Schulgarten.
Dort findet gleich nach dem Essen der Praxisunterricht statt: Astrida und ihre Freundinnen pumpen Wasser, gießen Kohlköpfe und zupfen Unkraut zwischen den Bohnenstauden - alles unter der geduldigen Aufsicht von Lehrer Nchimunya, der über die üppigen Beete hinweg Anweisungen gibt und versucht, etwas Ordnung ins Garten-Chaos zu bringen. "Die Kinder sind gerne im Garten, sie pflanzen ihr eigenes Mittagessen und was übrig bleibt, verkaufen ihre Mütter auf dem Wochenmarkt", erklärt er. "So kommt zusätzliches Geld in die Kasse."
Astrida schmiedet schon Pläne für die Zeit nach der Schule. "Wenn ich mal erwachsen bin, will ich meinen eigenen Garten haben und dann wächst alles gut, weil ich hier gelernt habe, wie das geht."
Gegen 14 Uhr ruft Nchimunya Stemon die Kinderschar aus dem Garten, Astrida schnappt ihren rosafarbenen Ranzen und macht sich auf den kurzen Heimweg. Einmal durchs Maisfeld, zurück zu den Großeltern.