"Fehlende Bildung verschärft Konflikte"
9. April 2015Deutsche Welle: Das internationale Aktionsprogramm "Bildung für alle" der UNESCO ist 2015 ausgelaufen. Nun zieht die UNESCO eine Bilanz ihrer weltweiten Bildungsziele. Wie fällt diese aus?
Walter Hirche: Es zeigt sich ein sehr gemischtes Bild. Erfolge haben wir in der Quantität. Wir haben mehr Kinder, die eine schulische Bildung genießen, aber die Qualität der schulischen Lehre ist keinesfalls überall gesichert. Zum Beispiel sind zwar in den vergangenen Jahren in vielen Ländern südlich der Sahara Kinder zur Schule gegangen, aber sie haben sie nach zwei oder drei Jahren verlassen. Wir haben weltweit noch eine deutliche Benachteiligung der Bildung von Mädchen und wissen gleichzeitig jedoch, dass die Rolle der Frauen in der Entwicklung der Gesellschaften eine wesentliche konstruktive Rolle spielt. Wir sind weit weg von den Zielen, die sich die Vereinten Nationen im Jahr 2000 gestellt haben, sodass auch in den nächsten 15 Jahren Bildung in allen Ländern ein Top-Thema in der Entwicklungs- und Bildungspolitik sein muss.
250 Millionen Kinder weltweit erwerben keine grundlegenden Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeiten, obwohl die Hälfte von ihnen vier Jahre die Schule besucht hat. Wie kann die Qualität des Unterrichts gesichert werden?
Die Qualität des Lehrpersonals ist ein ganz großes Problem. Wir haben nicht die Zeit, darauf zu warten, dass weltweit ausreichend viele qualifizierte Lehrer zur Verfügung stehen. Ich rechne damit, dass wir im nächsten Jahrzehnt ganz gezielt Neue Medien im Bereich der Bildung einsetzen können. Diese Inhalte, die sich auf Fernsehberichte oder digitale Medien stützen, können dann ersetzen, was wir an Lehrerausbildung in der kurzen Zeit nicht leisten können. Ich glaube, das kann ein entscheidender Sprung nach vorne sein.
Digitales Lehrmaterial flächendeckend einzuführen kostet aber gerade Entwicklungsländern Geld, das sie dafür nicht unbedingt zur Verfügung haben. Sei es die Bereitstellung eines Internetanschlusses oder für die Endgeräte. Wer kann diese Entwicklung unterstützen?
Einerseits gibt es durchaus technische Möglichkeiten, Bildungsprogramme über Neue Medien kostengünstiger anzubieten, als wir es in Europa kennen. Es würde vielleicht schon genügen, die Inhalte über Funk bereitzustellen, wie es heute schon in Australien oder auch in bevölkerungsschwachen Ländern in Afrika geschieht. Aber auch das kostet Geld. Alle Staaten, allen voran die Staatengemeinschaft, müssen sehr viel mehr Geld aufbringen, um Bildungsangebote zu finanzieren und die Qualität sicherzustellen.
Besonders Geschlechterunterschiede spielen beim Bildungszugang eine entscheidende Rolle. Hat sich die Lage der Mädchen seit 2000 verbessert?
Es hat in verschiedenen Staaten Fortschritte gegeben. Es gibt einzelne Staaten, sogar in Afrika, in denen mehr Mädchen als Jungen zur Schule gehen. Das sind aber die absoluten Ausnahmen. Simbabwe hat beispielsweise sehr gute Erfolge im Bildungsbereich. Es gibt dagegen Staaten in der Subsahara, wie zum Beispiel Niger, wo 25 Prozent der Jungen und nur 12 Prozent der Mädchen einen Grundschulabschluss schaffen. Beide Werte sind sehr schlecht. Aber diese Beispiele zeigen, dass die verschiedenen Staaten den Bildungsbereich unterschiedlich stark fördern. Die Weltgemeinschaft muss daher durch die UN-Vollversammlung Ende des Jahres verdeutlichen, dass Bildung die Entwicklung von Staaten vorantreibt und deren Zukunft sichert. Auch die industrialisierten Länder müssen begreifen, dass fehlende Bildung kein isoliertes Problem irgendwo in Afrika ist. Ich sehe uns nicht nur in einer moralischen, sondern auch in einer finanziellen Verpflichtung.
Kinder in Krisenregionen haben kaum die Möglichkeit, einen Unterricht zu besuchen. Auch sieht es derzeit nicht danach aus, als würde sich die Lage in Konfliktgebieten entspannen. Was bedeutet der mangelnde Zugang zu Bildung für die heranwachsende Generation?
Diese Situation ist tragisch und dramatisch zugleich. Diese Lage der Kinder wird bedeuten, dass wir eine Verlängerung und wahrscheinlich auch eine Verschärfung von Konfliktsituationen haben werden. Zum Beispiel ist die Bildungssituation im Nahen Osten deutlich besser als im Subsahara-Gebiet. Aber wenn dort die Schule jahrelang ausfällt, ist zu beobachten, dass dann ersatzweise ideologische Indoktrination stattfindet. Es ist besonders traurig, dass man in solchen kriegerischen Situationen sowohl im Kultur- wie im Bildungsbereich ohnmächtig danebensteht.
Deswegen müssen wir die Ursache für solche Konflikte beseitigen. Wenn Kinder von Bildung ausgesperrt sind, nicht genügend Informationen bekommen oder in Schulen nicht Voraussetzungen geschaffen werden, damit sich diese Kinder als Erwachsene zurechtfinden können, wird die Welt auch noch in 15 Jahren in kriegerischen Konflikten sein. Jeder Tag, der Kindern verloren geht, bedeutet, dass die Armutssituation und die Konfliktsituation andauern werden.
Der FDP-Politiker Walter Hirche war von 2002 bis 2014 Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission. Seit 2015 ist er Chairman des Governing Board des UNESCO Institute for Lifelong Learning in Hamburg.
Das Interview führte Sabrina Pabst.