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Politik

Gefälschte Berichte und vertane Chancen

Heiner Kiesel
3. Juli 2017

Das islamistische Attentat in Berlin hätte verhindert werden können, wenn Behörden nicht untätig geblieben, Unterlagen nicht manipuliert worden wären. So blieb der spätere Attentäter Anis Amri in Freiheit.

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Berlin Anschlag Breitscheidplatz zerstörter LKW abgeschleppt
Bild: picture-alliance/rtn/P. Wuest

Bruno Jost gilt als beharrlicher Mensch. Der pensionierte Bundesanwalt hat sich in den vergangenen Wochen stoisch durch die Akten gearbeitet, die sich mit Anis Amri befassen. Der Tunesier ist, nach Stand der Ermittlungen, im vergangenen Dezember mit einem schweren Lastwagen in einen gut besuchten Berliner Weihnachtsmarkt gefahren. Dabei starben 11 Menschen. Zuvor war auch der polnische Fahrer des Trucks erschossen worden. Amri tötete wohl im Auftrag der Terrororganisation Islamischer Staat.

Vor der Bluttat ist viel schief gelaufen, das war schnell deutlich. Bruno Jost ist der Sonderermittler, den der Berliner Senat eingesetzt hat, um herauszufinden, wer genau versagt hat. Bei seiner Arbeit ist er auf sonderbare Vorgänge gestoßen.

Fahndungsfotos des gesuchten Tunesiers Anis Amri
Nach dem Attentat reiste Anis Amri ungehindert durch Europa und starb bei einer Schießerei mit italienischen PolizistenBild: picture alliance/dpa/A. Dedert

Da gibt es zum Beispiel einen Bericht, der erst am 19. Januar 2017 zugestellt worden ist, zwei Seiten stark, und der sich mit den Aktivitäten Amris als Drogendealer befasst. Er trägt das Datum 1. November 2016. "Dieser Bericht war inhaltlich fehlerhaft, unvollständig und tatsächlich erst am 18. Januar 2017 erstellt worden", stellt Jost bei der Vorstellung seines Zwischenberichts im Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses fest.

Ursprünglich hatte es wohl eine wesentlich längere Version gegeben, angefertigt von einer Kriminalkommissarin im Kommissariat 547, deren Nachnamen Jost mit "W." abkürzt. Da waren es noch zehn Seiten, für die Informationen aus mehr als fünf Dutzend abgehörten Telefonaten verwertet worden waren. Der Amri, der sich in diesem, wahrscheinlich dem ursprünglichen Bericht zeigt, hat ein ganz anderes Kaliber als der in der gekürzten Fassung.

Gewerbs- und bandenmäßiger Rauschgifthandel

Kommissarin W. hatte offenbar ziemlich fleißig die mehr als 7000 Datensätze durchforstet, die zu Amri angelegt worden waren. Sie unterstreichen, dass Amri den Drogenhandel zusammen mit anderen organisiert hat. Seit Ende September 2016 wussten die Ermittler eine Menge über Amri und sein Netzwerk - dass er mit Kokain, Amphetaminen und Haschisch in nicht gerade kleinen Mengen handelte, dass er Revierstreitigkeiten mit anderen ausgefochten hat, dass er Kleindealer beschäftigte. Der Sonderermittler ist sich sicher: "Auf dieser Basis wäre spätestens ab Anfang November 2016 eine Befassung der Staatsanwaltschaft mit dem Vorgang möglich und notwendig gewesen", heißt es in seinem Zwischenbericht. Dann wäre alles anders gekommen, wäre das Attentat vom Breitscheidplatz zu verhindern gewesen. Jost kommentiert das trocken so: "Nach meiner persönlichen Erfahrung hätte nichts gegen den Erlass eines Haftbefehls gesprochen."

Sitzung Innenausschuss zu Anis Amri Thomas Beck und Bruno Jost
Bundesanwalt Thomas Beck (li.) und Sonderermittler Bruno Jost berichten im Innenausschuss des Berliner ParlamentsBild: picture-alliance/dap/W. Kumm

Statt dessen blieb Anis Amri in Freiheit und wandte sich einem neuen Ziel zu: dem Kampf für den Islamischen Staat. So sieht es die Bundesanwaltschaft nach Auswertung von Handydaten und Zeugenaussagen.

Der Tunesier bekam einen "Mentor" aus den Reihen der Terrororganisation. Denen war Amris Vorleben als Krimineller offenbar egal. "Die nehmen jeden", konstatiert Bundesanwalt Thomas Beck, der die Abteilung Terrorismus bei der Bundesanwaltschaft leitet. Amri ruft danach fast nur noch Propagandaseiten der Islamisten auf. "Zuvor haben Pornoseiten den Browserverlauf dominiert", beschreibt Beck. Er bekommt wahrscheinlich Tipps, wie er den Anschlag durchführen soll. Ein großer Teil der Kommunikation wird über den Messenger-Dienst Telegramm abgewickelt. "Das können wir nur bruchstückhaft nachvollziehen", sagt der Bundesanwalt. Schließlich kommt es zum Attentat. Für die ermittelnden Behörden ist Amri ein Einzeltäter, der keine weitere Unterstützung aus Deutschland hatte. Damit ist er kein Einzelfall.

Die rätselhaften Eingriffe des L.

Die Geschichte Amris ist eine mit vielen "Wenns". Wenn der Tunesier richtig erfasst und nicht zudem noch mit einer ganzen Reihe von falschen Identitäten durch das Land gereist wäre, wenn er rechtzeitig ausgewiesen worden wäre… Und jetzt auch noch die eigenartigen Vorgänge um die Berliner Kriminalbeamten, die es nicht geschafft haben, die Staatsanwaltschaft rechtzeitig auf die Höhe ihrer Erkenntnisse zu bringen. "Da hat die Dienstaufsicht versagt", vermutet Sonderermittler Jost.

Das Dokumentationssystem der Berliner Polizei hat einen Algorithmus, der dafür sorgt, dass Akten, die liegen bleiben, nicht vergessen werden. Der Chef der Abteilung, Kriminaloberkommissar L., hat aber nicht reagiert – mit möglicherweise tödlichen Folgen. Jost weiß nicht, warum der Dienststellenleiter untätig geblieben ist. Aber durch die Protokolldateien des Dokumentationssystems weiß er inzwischen, wer wann Zugriff auf die Akten zu Amri hatte. Auch hier taucht der Name L.s auf. Hat er die Akten gefälscht, um ein Versagen zu vertuschen? "Die Staatsanwaltschaft hat ihn vernommen, aber er hat keine Angaben dazu gemacht", berichtet Jost. Ab Donnerstag wird sich in Berlin ein Untersuchungsausschuss um Antworten kümmern.