Fall Anis Amri: Abschiebung versäumt
30. März 2017Anis Amri, der in Berlin im Dezember 2016 mit einem LKW zwölf Menschen tötete, hatte sich zum Zeitpunkt als Sicherheitsbehörden auf ihn aufmerksam wurden, in Nordrhein Westfalen aufgehalten. Deshalb wird dort weiterhin nachgeforscht, warum das Land nicht entschlossener gegen Amri vorgegangen ist. Künftig sollen beim Umgang mit Gefährdern keine Pannen mehr vorkommen. Neben Fehlern in der Kommunikation der Sicherheitsbehörden geht es jetzt um verpasste Chancen bei der Abschiebung.
Mit seiner Aussage im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtages hat Bundesinnenminister Thomas de Mazière seinem Amtskollegen im Land Nordrhein-Westfalen, Ralf Jäger, klar widersprochen. Innenminister Jäger hatte zu Protokoll gegeben, man sei in dem Fall "bis an die Grenze des Rechtsstaates" gegangen und hätte keine Abschiebung veranlassen können. De Maizière meint, man hätte sehr wohl die Möglichkeit gehabt, den damals schon als Gefährder bekannten Anis Amri in Haft zu nehmen, um ihn dann abschieben zu können. Wie kann es zu diesen zwei unterschiedlichen Aussagen kommen?
Unterschiedliche Rechtsauffassungen
Allen Beobachtern ist im Laufe der Ermittlungen der vergangenen Wochen deutlich geworden: Es geht um zwei unterschiedliche Rechtsauffassungen zur Abschiebehaft in Berlin und Düsseldorf. Obwohl das Landeskriminalamt von Nordrhein Westfalen neun Monate vor dem Anschlag dem Düsseldorfer Innenministerium empfahl, eine Abschiebung anzuordnen, sah das Innenministerium die rechtlichen Möglichkeiten als nicht gegeben. "Die hohen Anforderungen waren nicht erfüllt", wiederholte Innenminister Jäger im Zeugenstand.
Bedingungen der Abschiebehaft
Das Aufenthaltsgesetz sieht vor, dass eine Abschiebehaft unzulässig ist, wenn die Abschiebung selbst nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Der betroffene Ausländer darf an der Verzögerung keine Schuld haben. Nordrhein-Westfalen argumentiert, dass man die drei Monate nicht habe einhalten können. Nicht einmal die doppelte Zeit. Es hätten noch fehlende Passersatzpapiere für Amri aus seiner Heimat Tunesien beschafft werden müssen. Nach Einschätzung des NRW-Innenministeriums wäre das innerhalb der Fristen nicht möglich gewesen, wie Vergleichsfälle und Erfahrungen mit Tunesien aus der Vergangenheit gezeigt hätten. Die Haltung hier: Man sei keine Probierbehörde.
Das Bundesinnenministerium in Berlin vertritt die Ansicht, dass Amri sehr wohl eine Mitschuld an der Verfahrensverzögerung getragen habe. Er wechselte seinen Aufenthaltsort, ohne den Ausländerbehörden eine Anschrift anzugeben und aufgrund der mehrfachen Täuschungen zu seiner Identität hätte eine Fluchtgefahr bestanden. Daher hätte die Drei-Monats-Bedingung nicht gegolten. Man hätte sich zusätzlich auch Unterstützung beim Bundesinnenministerium holen können, lässt das Ministerium selbst erklären. Das sei leider nicht passiert.
Verpasste Chancen
"Der Hinweis des Landeskriminalamtes auf befürchtete besonders schwere Straftaten durch Anis Amri hätte helfen können. Dann hätte das Aufenthaltsrecht eine Abschiebeanordnung erlaubt", sagt Joachim Stamp, der als Obmann der FDP-Fraktion den Untersuchungsausschuss intensiv verfolgt.
Selbst das Bundesverwaltungsgericht hätte angedeutet, dass eine solche Maßnahme möglich gewesen wäre. Es habe im NRW-Innenministerium nur keiner probiert, trotz mehrfacher deutlicher Hinweise des LKA, wundert sich Stamp zusammen mit Innenminister de Maizière. "Es ist eine entscheidende Fehleinschätzung gewesen, dass man Anis Amri nicht festgesetzt hat", erklärt Joachim Stamp im Gespräch mit der Deutschen Welle und ergänzt: "Aus unserer Sicht wäre eine Abschiebehaft spätestens im Oktober 2016 möglich gewesen." Zu diesem Zeitpunkt war Amris Identität von tunesischer Seite geklärt. "Bei dieser Rechtslage von vornherein zu sagen, das geht nicht, ist aus unserer Sicht ein schwerer Fehler." Gerade bei unterschiedlichen Rechtsauffassungen gelte: Ein Gericht muss über einen Antrag entscheiden.
Unterstützung erhält Stamp durch den Rechtsexperten Henning Ernst Müller von der Universität Regensburg, der zur Bewertung der Entscheidungsmöglichkeiten ein Rechtsgutachten erstellte. Darin heisst es: "Die Erfolgsaussichten für die gerichtliche Bestätigung eines Inhaftierungsantrags stiegen tendenziell im Verlauf des Herbstes an." Ist also im NRW-Innenministerium richtig abgewogen worden?
Suche nach Pannen im System
Mehrere Teilnehmer am Untersuchungsausschuss wie Monika Düker, die für die Grünen dort teilnimmt, sprechen von einer Fehleinschätzung. Düker spekulierte sogar im Landtag darüber, ob es gar am Personalmangel gelegen haben könnte. Innenminister Jäger hat immer auf die Stärke seiner Sicherheitskonferenz verwiesen. Joachim Stamp hat nach eigener Auskunft bei der Untersuchung im Ausschuss mitbekommen, wie das konkret aussah. "Die Sicherheitskonferenz besteht nur aus Sachbearbeitern. Dort ist kein Jurist an der Vorbereitung dieser Entscheidung beteiligt gewesen. Am Ende hat dann ein einzelner Jurist mit seiner Rechtsauffassung entschieden", erzählt Stamp der DW. Es sei der Abteilungsleiter gewesen.
Im Untersuchungsausschuss ist deutlich geworden, dass die Fehler nicht nur in Nordrhein Westfalen liegen. Wie die Kommunikation zwischen NRW und dem gemeinsamen Terrorabwehrzentrum in Berlin genau aussah, ist eine von vielen Fragen, die in den kommenden Wochen geklärt werden sollen. Eigentlich endet die Zeit des Ausschusses mit Ende der Legislaturperiode. Aber bereits für Mai nach der Wahl sind weitere Untersuchungstermine vereinbart.