NS-Raubkunst: Verschleppt die deutsche Politik Rückgaben?
3. Dezember 2023Pablo Picasso - allein dieser Name reicht in der Regel, um für Aufmerksamkeit in der Kunstwelt zu sorgen. Und so erstaunt es nicht, dass ein Picasso nun zum Synonym geworden ist für Deutschlands Umgang mit NS-Raubkunst. Es geht um das Gemälde "Madame Soler" von 1903, Teil der Blauen Phase des Künstlers, zu sehen in der Pinakothek der Moderne in München. Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen wünschen, dass dies auch so bleibt. Um Raubkunst handele es sich bei dem Gemälde nicht.
Der Historiker Julius H. Schoeps sieht das ganz anders. Das Gemälde habe eindeutig seinem Großonkel gehört: dem deutsch-jüdischen Bankier und Kunstsammler Paul von Mendelssohn-Bartholdy.
Schoeps, emeritierter Professor für Neuere Geschichte der Universität Potsdam, hat jahrelang selbst in Archiven weltweit recherchiert und ein Buch über den Fall geschrieben: "Wem gehört Picassos 'Madame Soler'?" Für ihn ist klar: Dass das Gemälde 1935 zum Verkauf angeboten wurde, war Resultat der Entrechtung und Verfolgung von Juden seit Hitlers Machtübernahme 1933. "Dass Bayern behauptet, bis 1935 habe es gar keine Verfolgung gegeben, ist völlig ahistorisch", empört er sich im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Kommission kann im Fall "Madame Soler" nicht tätig werden
Ein Streit, der wie gemacht scheint für die Beratende Kommission NS-Raubgut. Sie wurde vor zwanzig Jahren ins Leben gerufen, um in komplizierten Fällen von Restitutionsstreitigkeiten eine Empfehlung abzugeben. Das Problem: Die Kommission kann ihre Arbeit nur aufnehmen, wenn beide Parteien zustimmen.
"Bei 'Madame Soler' kämpfen die Familien seit fast zehn Jahren um eine Befassung der Kommission mit dem Fall", kritisiert der Präsident eben dieser Kommission, Hans-Jürgen Papier. "Aber der Freistaat Bayern weigert sich kategorisch. Wir können nichts machen."
Reform der Kommission gefordert
Und so forderte Papier bereits anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Kommission eine grundlegende Reform: Sie müsse auch einseitig - also von Seiten der Opfer von NS-Verfolgung - angerufen werden können. Ohne dass die Museen ihre Zustimmung geben. Und die Empfehlungen der Kommission müssten verbindlich sein. "Wir bewegen uns im rechtsfreien Raum. Wenn die Museen Bilder rausgeben, dann sind das freiwillige, allenfalls moralisch fundierte Handlungen. Die Opfer haben keine Rechtsansprüche."
Deutschland hat 1998 die sogenannten "Washingtoner Prinzipien" unterzeichnet. 43 Staaten verpflichteten sich darin, "NS-verfolgungsbedingt entzogene Kunstwerke" zu identifizieren und "gerechte und faire Lösungen" mit den Eigentümern oder ihren Erben zu finden. Deutschland halte sich nicht daran, meint Julius H. Schoeps.
"Deutschland ist das Täterland. Und gerade hierzulande verzweifeln die Erben vielfach daran, wie mit ihnen umgegangen wird." Wenn nicht endlich etwas geschehe, werde der Ruf Deutschlands international beschädigt.
Er führt an, dass die Erbengemeinschaft Mendelssohn-Bartholdy außerhalb Deutschlands mehrfach Vergleiche mit Museen geschlossen habe, darunter das Museum of Modern Art (MoMA) und das Guggenheim in New York.
Braucht es ein neues Restitutionsgesetz?
Claudia Roth, die Kulturstaatsministerin, die zum Festakt der Kommission ins Jüdische Museum Berlin kam, versprach, es werde Reformen geben. Man wollte sich noch im Oktober mit den Bundesländern - deren Zustimmung es im föderalen System Deutschlands in diesem Fall braucht - beraten, um eine einseitige Anrufung der Kommission zu ermöglichen.
Dem Vorsitzenden der Kommission, Hans-Jürgen Papier, geht das nicht weit genug. Er fordert ein Restitutionsgesetz. Anders, so meint der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, wäre die einseitige Anrufung gar nicht durchzusetzen. 23 Empfehlungen hat die Beratende Kommission NS-Raubgut in den 20 Jahren ihres Bestehens abgegeben. "Das ist zu wenig", beklagt Papier. Auch wenn die Fälle, in denen sie interveniert habe, wegweisend gewesen seien.
Erfolgreich war die Kommission etwa bei der Beilegung eines Streits um zwei Gemälde des italienischen Altmeisters Bernardo Bellotto, genannt Canaletto. Der Streit zog sich über 15 Jahre. Die Gemälde hatten einst dem jüdischen Kaufhausmagnaten und bedeutenden Kunstmäzen Max Emden gehört. Er hatte sie während der Zeit des Nationalsozialismus über Umwege an die Privatsammlung Adolf Hitlers verkaufen müssen - unter Wert, wie die Anwälte der Familie Emden argumentierten.
Nach dem Krieg fanden US-Soldaten die Bilder, die später im Kunstdepot des Bundesfinanzministeriums landeten. Zeitweise hingen sie im Amtssitz des Bundespräsidenten, später im Militärhistorischen Museum Dresden.
Dort war man der Überzeugung, Max Emden habe sich doch zum Zeitpunkt des Verkaufs in Sicherheit in der Schweiz befunden. Es war an den Erben, zu beweisen, dass Emden die Canalettos "aus verfolgungsbedingtem Vermögensverlust" verkauft hatte.
Maeva Emden, die Urenkelin von Max Emden, die in Chile aufwuchs, erinnert sich an die vielen bürokratischen Hürden, die ihre Familie überwinden musste. Die Kommission empfahl schließlich die Rückgabe der zwei Canalettos. 2020 wurden sie bei Sotheby's versteigert. Das Werk "Ansicht des Zwingergrabens in Dresden" erzielte allein sechs Millionen Euro.
"Die notwendige und jahrelange anwaltliche Unterstützung machte den Verkauf der Bilder erforderlich", sagt Maeva Emden. Dabei hätte sie die Canalettos lieber der Kunsthalle Hamburg - der einstigen Heimatstadt des Kunstmäzens Max Emden - zur Verfügung gestellt. Die Erbin will vor allem eine Anerkennung dafür, "was Max Emden für Hamburg und für Deutschland geleistet hat. Es gibt so viele jüdische Familien, deren Erinnerung erloschen ist, weil sie ermordet wurden."
Restitution ist keine "Wiedergutmachung"
In einem weiteren Fall kam es ebenso zu einer Rückgabe auf Empfehlung der Kommission: Die Familie Reynolds erhielt 2017 das Aquarell "Marschlandschaft mit rotem Windrad" von Karl Schmidt-Rottluff zurück. Es gehörte dem jüdischen Unternehmer und Kunstsammler Max Rüdenberg. Vernon Reynolds - heute 87 Jahre alt - ist sein Enkelsohn.
"Was sind schon Gemälde?", fragt er im Gespräch mit der DW. Er würde viel lieber über den Verlust von Menschen sprechen als über die Restitution von Kunstwerken. "Kunstwerke kann man zurückgeben, Menschen nicht", sagt er. "Ich habe meinen Vater verloren und meine Großeltern auf beiden Seiten. Onkel, Tanten - alle für immer verloren."
Vernon Reynolds, geboren 1935 in Berlin, überlebte mit seiner Mutter - auch dank der Kunstsammlung des Großvaters. Max Rüdenberg und seine Frau Greta verkauften, was sie nur konnten, um die Familie außer Landes zu bringen.
Vernons Bruder und Schwester gelangten mit einem der Kindertransporte nach England. Auch der Mutter glückte die Flucht mit dem damals dreijährigen Vernon. Max und Greta Rüdenberg aber blieben in Deutschland. Sie wurden in Theresienstadt ermordet. Vernon Reynolds Vater starb in Auschwitz.
Der Artikel wurde anlässlich des 25. Jubiläums der Washingtoner Erklärung aktualisiert.