Schottland, Nordirland und der Brexit
27. Juni 2017Als die Briten vor einem Jahr mit knapper Mehrheit für den Austritt aus der EU stimmten, witterte Nicola Sturgeon eine neue Chance. Das Lebensziel der Chefin der Schottischen Nationalpartei, SNP, ist die schottische Unabhängigkeit. Eine Volksbefragung 2014 hatte zwar ergeben, dass 55 Prozent der Schotten für den Verbleib im Vereinigten Königreich waren. Beim Brexit-Referendum hatte Schottland aber gegen den Trend gestimmt; rund 60 Prozent der Schotten wollten in der EU bleiben. Das bedeutete, dass Schottland entgegen dem erklärten Willen seiner Bewohner aus der EU geführt werden könnte. Für Nicola Sturgeon durfte das nicht sein. Sie forderte ein neues Unabhängigkeitsreferendum und war sich sicher, dass sie ihr Ziel eines eigenständigen EU-Mitglieds Schottland jetzt doch noch erreichen würde.
Ein Jahr später sind die schottischen Nationalisten kleinlaut geworden. Michael Russell, Brexit-Minister der SNP-Regierung in Edinburgh, sagt heute, er wolle "den am wenigsten schlechten Brexit für Schottland", fügt aber hinzu, man müsse ebenso dafür sorgen, "dass ein Wiedereintritt Schottlands (in die EU) möglich ist, falls sich Schottland zu einem späteren Zeitpunkt für diesen Weg entscheidet".
Im Moment ist die Stimmung aber eine andere. Bei der jüngsten Unterhauswahl hat die bisher erfolgsverwöhnte SNP in Schottland massenweise Sitze verloren, in vielen Fällen ausgerechnet an die Konservativen, also an die Partei, die mit dem Ziel eines "harten" Brexit in den Wahlkampf gezogen war. Die Unabhängigkeitseuphorie in Schottland scheint verflogen. Wer es wissen wollte, hätte es aber schon vor der Wahl erfahren können. Umfragen hatten ergeben, dass ein neues Unabhängigkeitsreferendum heute praktisch mit dem gleichen Ergebnis enden würde wie 2014, nämlich rund 55 zu 45 Prozent dagegen. Mehr noch, eine Mehrheit ist der Meinung, ein neues Referendum sei überflüssig, weil es ja erst vor drei Jahren eines gegeben habe.
Nordirland will keine Grenzkontrollen
Der Albtraum einer neuen Grenze entlang des Hadrianswalls scheint also passé. Auf der anderen Seite drohen aber Komplikationen in Irland an der Grenze zwischen der Republik und Nordirland, das zum Vereinigten Königreich gehört. Hier wird in Zukunft eine EU-Außengrenze verlaufen. Und die Probleme dürften dadurch wachsen, dass die britische Premierministerin Theresa May zum Regieren auf die Unterstützung der zehn Unterhausabgeordneten der nordirischen Demokratisch-Unionistischen Partei, DUP, angewiesen ist.
Beim Brexit ist die DUP gespalten. Die Partei ist zwar grundsätzlich für den EU-Ausstieg, will aber eine gut gesicherte Grenze zur Republik - einschließlich Zollkontrollen - verhindern. Im Moment ist die Grenze sehr durchlässig, und "niemand in Nordirland" wolle das ändern, sagt DUP-Chefin Arlene Foster. Harte Grenzkontrollen in Irland drohen jedoch unweigerlich bei einem harten Brexit, das heißt, wenn Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion aussteigt.
Dazu kommt noch die politische Unruhe, die das Abkommen zwischen May und Foster ausgelöst hat. Die protestantisch-unionistische DUP stört die neutrale Rolle, die London bei der Vermittlung im Nordirland-Konflikt eigentlich einnimmt. Wenn sich die britische Regierung durch ihr lockeres Bündnis mit der DUP auf die protestantisch-unionistische Seite in Nordirland schlägt, dürften sich die politischen Spannungen dort noch verschärfen. Die nordirische Regionalregierung aus Unionisten und irischen Nationalisten, die seit dem sogenannten Karfreitagsabkommen von 1998 für eine halbwegs funktionierende Selbstverwaltung sorgt, ist zerbrochen. Wenn sich beide Seiten nicht bis kommenden Donnerstag auf eine neue Regierung einigen, könnte London die Provinz wieder unter seine direkte Verwaltung stellen.
Gerry Adams, Chef der irisch-nationalistischen Partei Sinn Fein, die sich die Macht in Belfast bisher mit der DUP geteilt hatte, sagte vom Abkommen der Konservativen mit der DUP, es bedeute "einen Blankoscheck für einen Brexit im Sinne der Tories, der das Karfreitagsabkommen gefährdet". Das Karfreitagsabkommen hatte dem Nordirland-Konflikt, der in drei Jahrzehnten 3.600 Menschenleben forderte, ein vorläufiges Ende gesetzt.
Warnung der Tory-Patriarchen
Es nützt in der aufgeladenen Situation gar nichts, dass Theresa May der DUP als Gegenleistung für ihre Unterstützung eine zusätzliche Milliarde Pfund für Nordirland zusagte, Geld, das die schwach entwickelte Region eigentlich gut gebrauchen kann. Denn jetzt beschweren sich Politiker in Schottland und Wales, warum Nordirland eine Finanzspritze bekommen soll, ihre Regionen aber nicht. Nicola Sturgeon fühlt sich nur bestätigt: "Dieses schäbige Abkommen zeigt, dass die Tories vor nichts zurückschrecken, nur um an der Macht zu bleiben."
Die britischen Konservativen sind traditionell die Partei, die das Vereinigte Königreich zusammenhalten will. Aus Sorge um diesen Zusammenhalt melden sich jetzt einige Tory-Patriarchen zu Wort. Da ist der frühere Premierminister John Major, der warnt, durch das Abkommen mit der DUP sei der Friedensprozess in Nordirland in Gefahr. Und was Schottland betrifft, so ruft auch Mays Vorgänger David Cameron zu mehr Rücksichtnahme beim Brexit auf. Cameron wird bei einer Rede in Polen von der "Financial Times" mit den Worten zitiert: "Schottland hat gegen den Brexit gestimmt. Ich glaube, viele schottische Konservative wollen Änderungen am Brexit-Prozess." Doch es war immerhin Cameron, der das Brexit-Referendum überhaupt beschlossen hatte. Und es war May, die sich ein stärkeres Brexit-Mandat durch eine vorgezogene Wahl sichern wollte und ihre Mehrheit verlor. Der frühere Tory-Minister und EU-Kommissar Chris Patten sieht denn auch in diesen beiden Entscheidungen seiner Parteifreunde "das politisch Schädlichste, was ich je erlebt habe". Dank der "katastrophalen Entscheidungen zweier konservativer Premierminister stecken wir jetzt furchtbar in der Tinte."