Was hinter den Corona-Protesten steckt
9. Dezember 2021Sieben-Tages-Inzidenzen über 400, 500 oder sogar im vierstelligen Bereich: Mit steigenden Corona-Infektionszahlen haben viele europäische Länder die Notbremse gezogen und strengere Maßnahmen wie Maskenpflicht auch für Kinder, Teillockdowns oder eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen verhängt - zum Ärger vieler Menschen. Seit Wochen gehen nun wieder zehntausende Demonstranten in ganz Europa gegen die neuen Corona-Regeln auf die Straße. Doch was treibt sie wirklich an?
In welchen Ländern sind die Corona-Gegner derzeit besonders stark?
Besonders in Deutschland und seinen Nachbarländern scheint es zu brodeln. Ein paar Beispiele aus jüngster Zeit: In Österreichs Hauptstadt Wien haben kürzlich laut Polizei wieder einmal rund 40.000 Menschen gegen den Corona-Teillockdown und die angekündigte Impfpflicht demonstriert, zum Teil kam es dabei zu Ausschreitungen.
Rund 8000 Demonstranten zogen am vergangenen Wochenende in Belgiens Hauptstadt Brüssel zum Sitz der Europäischen Union, einige der Demonstranten lieferten sich dabei eine Straßenschlacht mit der Polizei. Bei Protesten in Luxemburg durchbrachen etliche Menschen das Absperrgitter eines Weihnachtsmarktes, der eigentlich nur für Geimpfte und Getestete zugänglich war.
In den Niederlanden sind die Proteste ebenfalls eskaliert. Hunderte Menschen setzten vor Wochen in Den Haag Fahrräder in Brand oder bewarfen Polizisten mit Steinen oder anderen Gegenständen, in den vergangenen Tagen verliefen die Proteste jedoch wieder friedlich.
Auch in Deutschland haben sich Corona-Gegner wieder mobilisiert, in vielen Städten kommt es zu Kundgebungen. In Sachsen wird wegen des derzeitigen Versammlungsverbots zu sogenannten Spaziergängen aufgerufen, die Gruppen werden laut Experten offenbar von Rechtsextremen gesteuert. Trauriger Höhepunkt der jüngsten Zeit war ein Fackelaufmarsch vor dem Wohnhaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping in Grimma.
Von Evangelikalen bis Hooligans: Wer demonstriert da eigentlich?
Politikverdrossene, Querdenker, Esoteriker, Impfverweigerer: Der Protest gegen die verschärften Corona-Maßnahmen zieht völlig unterschiedliche Gruppen an. Politik-Professor Marc Hooghe von der Katholischen Universität Löwen vergleicht die Demonstrationen in Belgien im ZDF mit der "Gelbwesten"-Bewegung in Frankreich und sieht in ihnen eine "Kombination aus sehr unterschiedlichen sozialen Gruppen, die alle ihre eigene Motivation" haben.
Ähnlich sieht es auch in Deutschland aus: "Was sie vereint, ist Frustration - nicht nur mit der Corona-Politik, sondern auch mit der Demokratie, mit politischen Institutionen. Auch in anthroposophischen Milieus spielt die antimoderne Einstellung eine Rolle", erklärt Soziologe Johannes Kiess von der Universität Siegen im Gespräch mit der DW. "Was wir überall gesehen haben ist, dass sich Akteure aus dem rechten Spektrum an die Spitze stellen, mitorganisieren oder mobilisieren." Und das hat sich auch über die Monate nicht verändert. "Dieses Narrativ: 'Die Rechten kapern die Bewegung‘ ist Quatsch, sie waren von Anfang an dabei. Und es war von Anfang an für niemanden ein Problem“, sagt Kiess.
Auch bei den Protesten in Wien befanden sich Mitglieder der rechtsextremen 'Identitären Bewegung' um Martin Sellner, wie der ORF berichtete. Die rechte FPÖ bewirbt die Kundgebungen auf ihrer Webseite mit einem sogenannten "Demokalender", der nach eigenen Angaben "laufend aktualisiert wird". Weitere Unterstützung kommt auch aus der erzkonservativ-katholischen Ecke. Einer ihrer Fürsprecher ist Aktivist Alexander Tschugguel, der sonst Klimaschutz und Ehe für alle kritisiert und sich als "Lebensschützer" profiliert.
"Es kommt auch immer auf den Kontext und die politische Kultur in dem Land an“, sagt Kiess. In den Niederlanden protestierten zum Beispiel auch Mitglieder des evangelikalen Spektrums sowie Hooligans. "Das gibt es in anderen Ländern in dieser Form nicht."
Und auch innerhalb eines Landes gibt es große Unterschiede: Laut einer Studie der Universität Basel im Auftrag der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung von Ende November 2021 liegen die Wurzeln der Querdenker-Bewegung im Südwesten Deutschlands eher im linksalternativen Milieu, während in Ostdeutschland der Anteil der AfD-Wähler deutlich höher liegt.
Um was geht es den Protestlern?
"Grundsätzlich gilt: Es geht immer um viel, viel mehr als um Corona", sagt Kiess. So waren in Frankreich die Demos nur vordergründig mit den Corona-Maßnahmen verknüpft. "Aber es ging eigentlich auch immer um Macron und seine Art von Politik." Auch in den Niederlanden knüpfte der Protest an der Kritik zur Sozialpolitik an. "Man darf nicht unterschätzen, wieviel Zündstoff das bietet und wie leicht er sich entzünden lässt, zum Beispiel durch Corona". In Sachsen gehe es vor allem um Demokratieferne und Politikverdrossenheit. "Da gibt es null Vertrauen in die Politik."
Axel Salheiser, Co-Autor des Thüringen Monitors, einer jährlich stattfindenden Bevölkerungsbefragung, spricht deshalb im DW-Interview von "Mobilisierungsanlässen". "Rechtsradikale Akteure haben diesen Anlass genommen, um ihre systemfeindlichen Narrative zu verbreiten", erklärt er die Proteste in Ostdeutschland.
Werden die Demonstrationen nun immer extremer?
"Es spitzt sich zu - aber schon seit Monaten", sagt Kiess. Auch die deutsche Innenministerkonferenz geht davon aus, dass die Proteste immer radikaler werden. Nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes sei davon auszugehen, dass "eine Impfpflicht die aggressive Haltung der Querdenker-Bewegung noch verstärkt", sagte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Thomas Strobl.
Soziologe Kiess geht deshalb davon aus, dass es in den nächsten Wochen "noch heftiger" werden könne. "Man hätte gegen illegale Demonstrationen stärker und früher vorgehen müssen, in dem man zum Beispiel konsequenter Bußgelder verteilt und die Menschenmengen auflöst. Man hat es lange laufen lassen, vor allem in Deutschland."
Doch auch wenn die Pandemie irgendwann vorbei sein sollte, gehen die Proteste weiter, glaubt Salheiser. "Die zentralen Akteure, die die Radikalisierung voran treiben, haben Interesse, sich ein anderes Mobilisierungsthema zu suchen.." Zum Beispiel gegen die Klimapolitik. Und das, so Salheiser, werde schon jetzt vorbereitet.