Warum US-Bürger nach Nordkorea überlaufen
19. Juli 2023Minenfelder, Stacheldraht, alarmgesicherte hohe Zäune. Die innerkoreanische Grenze ist auf beiden Seiten rund um die Uhr streng bewacht. Diese 257 km lange demilitarisierte Zone (DMZ) zwischen Nord- und Südkorea, die bis zu vier Kilometer breit ist, wird von den Truppen der USA und den Vereinten Nationen überwacht.
Praktisch hält die DMZ potenzielle Flüchtlinge aus Nordkorea fern. Viele Nordkoreaner, die von akuter Armut und Hunger bedroht sind, sehen die Flucht in den Süden als einzigen Ausweg und als Chance für ein selbst bestimmtes besseres Leben.
Von einer Ausreise in den bitterarmen Norden hält die DMZ jedoch nicht ab. Genau dies war der Fall bei Travis King. Der 23-jährige US-Soldat einer Aufklärungseinheit wurde vor Kurzem aus einer südkoreanischen Haftanstalt entlassen. Er saß dort wegen einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit Einheimischen 47 Tage lang hinter Gittern.
Am Dienstag (18.7.) sollte er unter Aufsicht in die USA ausreisen. Allerdings verloren ihn die Wächter aus den Augen. So gelangte er in Zivilkleidung ins Zentrum von Seoul und konnte eine Bustour für ausländische Touristen zur demilitarisierten Zone buchen. In der Regel führt solch eine Tour zu einer Aussichtsplattform, die einen Blick in den Norden bietet, und später zu einem der Invasionstunnel, die vom Norden gegraben wurden.
"Lachend überquerte er die Grenze"
Andere Teilnehmer der Tour berichteten, dass King die Betonblöcke, die die Grenze markieren, laut lachend überquerte. Vermutlich haben ihn jetzt die nordkoreanischen Behörden festgenommen. Die US-Regierung erklärte, sie sei mit Südkorea und mit dem neutralen Land Schweden, das eine Botschaft in Pjöngjang unterhält und dort die Interessen der USA vertritt, im Kontakt, um eine Lösung zu finden.
Die Beziehungen zwischen Nordkorea und den USA befinden sich derzeitauf einem historischen Tiefpunkt. Das Regime von Kim Jung Un hatte vor einer Woche am 12. Juli eine Interkontinentalrakete abgefeuert, die im Japanischen Meer landete. Die USA reagierten, indem sie atomwaffenfähige B-52-Bomber über Südkorea fliegen ließen und die USS Kentucky, ein atomar betriebenes U-Boot der Ohio-Klasse, in die südkoreanische Hafenstadt Busan entsandten.
Damit lief erstmals seit vier Jahrzehnten ein U-Boot mit ballistischen Raketen an Bord in einen koreanischen Hafen ein. Noch am Mittwochmorgen (19.07.) feuerte Nordkorea erneut zwei weitere ballistische Kurzstreckenraketen in das Japanische Meer ab.
"Nordkoreas jüngster Abschuss von ballistischen Raketen hat wahrscheinlich nichts mit dem amerikanischen Soldaten zu tun, der die innerkoreanische Grenze überquert hat. Aber ein solcher Vorfall hilft der Sache auch nicht", sagte Leif-Eric Easley, außerordentlicher Professor für internationale Studien an der Ewha Womans University in Seoul.
"Nordkorea wird einen Überläufer wahrscheinlich als Bedrohung für das Militär, den Geheimdienst und die öffentliche Sicherheit behandeln, obwohl es wahrscheinlicher ist, dass eine solche Person aufgrund persönlicher Probleme psychisch angeschlagen ist und impulsiv handelt", vermutet Easly und betont, "solche unerwarteten Ereignisse unterstreichen die Notwendigkeit diplomatischer Kanäle zwischen den Regierungen und einer regelmäßigen Kommunikation zwischen den Militärs."
Mehrere Überläufer in Vergangenheit
Kings Beweggründe für seinen Grenzübertritt in den Norden sind noch unklar. Doch er ist nicht der einzige, der die Grenze von Süd- nach Nordkorea übertreten hat. Auch andere US-Bürger haben aus verschiedenen Gründen bereits dasselbe getan.
Matthew Miller zum Beispiel. Nachdem er bei seiner Ankunft am Flughafen Pjöngjang im April 2014 sein Touristenvisum zerrissen hatte, verurteilte ihn ein nordkoreanisches Gericht zu sechs Jahren Zwangsarbeit. Der damals 24-jährige Kalifornier sagte, er habe einen "wilden Ehrgeiz", das Leben in einem nordkoreanischen Gefängnis zu erleben, um mehr über die Menschenrechtssituation des Landes zu erfahren. Er wurde im November 2014 freigelassen.
Zusammen mit Miller kam der US-Missionar Kenneth Bae frei. Er wurde im November 2012 als Leiter einer Reisegruppe verhaftet. Der US-Amerikaner koreanischer Herkunft war wegen "feindseliger Handlungen" zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt worden, weil er eine Vielzahl von den in Nordkorea verbotenen Büchern dabei hatte.
Kings Fall wiederum scheint dem Überlauf von sechs US-Soldaten in den 1960er und 1980er Jahren zu ähneln. Einer von ihnen, Larry Abshier, war 19 Jahre alt, als er 1962 die Grenze in den Norden überquerte, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1983 blieb. Der 21-jährige James Dresnok folgte im selben Jahr und starb 2016 im Norden. Jerry Parrish floh 1963 in den Norden, wo er 1998 starb.
Charles Jenkins lief 1965 über, heiratete aber eine Japanerin, die vom Norden entführt worden war. Das Paar und seine beiden Kinder durften 2004 nach Japan übersiedeln. Er starb 2017.
Der Soldat Roy Chung verschwand 1979. Während Nordkorea behauptet, er sei übergelaufen, besteht seine Familie weiterhin darauf, dass er entführt wurde. Es wird angenommen, dass er um das Jahr 2004 herum verstarb. Der letzte Überläufer vor King war Joseph White, der 1982 im Norden Asyl beantragte, wo er drei Jahre später starb.
Leben nach Überlauf
Von den sechs US-Soldaten sind die Erlebnisse von Charles Jenkins am besten bekannt. Sein Lebensweg wurde in dem Dokumentarfilm "Crossing the Line" aus dem Jahr 2006 nachgezeichnet, bei dem Nicholas Bonner Co-Regie führte.
"Dresnok stand vor einem US-Kriegsgericht und hatte einfach genug. Sein familiäres Umfeld war zerrüttet. Die Erziehung war sehr schwierig ", erklärte Co-Regisseur Bonner der DW.
"Er hat es überhaupt nicht bereut, die USA verlassen zu haben, weil er keine gute Erinnerungen mit seinem Land verband. Seine Familie hatte ihn ausgestoßen. Er wuchs in einem Waisenhaus auf. Später verließ ihn seine Frau, also wollte er einfach nur raus."
Zwischen 1958 und 1960 wurde Dresnok in der Bundesrepublik Deutschland stationiert. Schon zu dieser Zeit wollte er nach eigenen Angaben in die DDR flüchten. Bonner glaubt, dass Dresnok in Nordkorea ein Gefühl von "Heimat" gefunden habe, wo er als Englischlehrer arbeitete und in einer Reihe von Propagandafilmen als Antagonist auftrat, bevor er im November 2016 in Pjöngjang starb.
Zu seinen Lebzeiten hielt er Nordkorea, wo er 54 Jahre lang lebte, immer noch die Treue. "Vielleicht haben einige der anderen es bereut, in den Norden gegangen zu sein, und dachten, sie hätten einen Fehler gemacht. Aber nicht Dresnok!", sagte Bonner. "Er hat alles in den USA zurückgelassen."
Ob jetzt Travis King aus der gleichen Motivation handelte, ist unklar. Seine Mutter sagte dem US-Sender ABC, sie sei schockiert über die Nachricht. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Travis so etwas tun wird", wird Claudine Gates zitiert. Sie wolle nur, dass ihr Junge so schnell wie möglich "nach Hause kommt".