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Politik

Ukrainer als "neue Russen"

Roman Goncharenko mo
30. Mai 2019

Der Kreml bietet Ukrainern die russische Staatsangehörigkeit an, aber nicht nur denen auf der annektierten Krim und im umkämpften Donbass. Experten erläutern, welche Probleme der Kreml damit lösen will.

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Moskau - Alltag
Bild: picture-alliance/ZB

Russland braucht dringend Ukrainer. Dieser Eindruck entsteht, wenn man sich anschaut, wie Moskau Menschen aus der Ukraine ins Land holt. Alles begann Ende April mit einem Dekret von Präsident Wladimir Putin. Seitdem ist es für die Menschen im Donbass, in den von Moskau unterstützten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" einfacher geworden, an einen russischen Pass zu kommen. Laut einem weiteren Dekret können auch Ukrainer, die den Donbass und die Krim bereits verlassen haben oder sich legal in Russland aufhalten, leichter russische Staatsbürger werden.

Zudem prüft derzeit das russische Parlament ein Gesetz, mit dem die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Ausländer in Russland vereinfacht werden soll. Beobachter vermuten, dass auch dieses Gesetz auf Ukrainer abzielt. Der Kreml erklärt, allein aus humanitären Überlegungen zu handeln. Doch Experten gehen davon aus, dass Russland auf diese Weise demografische Probleme lösen will.

Demografische Veränderungen

Margarita Simonjan, Chefredakteurin des russischen Fernsehsenders RT, schrieb auf Facebook, wenn nichts unternommen werde, werde sich die Bevölkerung bis 2040 so stark verändern, dass sich Russland in ein "muslimisches Land" verwandeln werde. Menschen aus dem Donbass sowie andere Migranten könnten daher helfen, den "fragilen Status quo einer Dominanz des russisch-orthodoxen Christentums" aufrechtzuerhalten, so die Journalistin.

Ukraine Russland Passtreit l Russland startet Passausgabe
So fing es an: Im Februar 2017 erklärte Putin die Anerkennung von Pässen der Volksrepublik DonezkBild: picture-alliance/TASS/dpa/S. konov

Anatolij Wischnewskij vom Institut für Demographie der Höheren Wirtschaftsschule in Moskau hingegen glaubt nicht, dass die orthodoxen Russen im eigenen Land zu einer Minderheit werden könnten. "Wir hatten immer einen Anteil muslimischer Völker, aber von ihnen geht kein schnelles Bevölkerungswachstum aus", so der Experte. Im Nordkaukasus gebe es zwar Republiken mit hohen Geburtenraten, aber auch dort würden sie zurückgehen.

Der Politologe Rostislaw Ischtschenko, der 2014 nach dem Machtwechsel in Kiew nach Moskau übersiedelte, schließt jedoch nicht aus, dass die Russen als "staatstragendes Ethnos" zur Minderheit werden könnten. Doch die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim hat ihm zufolge Russland zwei Millionen neue Bürger eingebracht, plus eine Million Flüchtlinge aus dem Donbass, die zum Teil inzwischen russische Pässe haben.

Russische Pässe für die Donbass-Bewohner
Putin ködert ukrainische Staatsbürger mit russische Pässen

Bereits im Frühjahr 2014, nur wenige Tage vor der Annexion der Krim, hatte der russische Politologe Aleksandr Borodaj in einem YouTube-Video erklärt, Russland brauche russischsprachige Menschen zur Lösung seiner demografischen Probleme. Borodaj, der später Ministerpräsident der "Volksrepublik Donezk" war, sagte: "Wir brauchen die Ukraine sehr. Russlands Hauptproblem ist nicht die Wirtschaft, sondern die Demografie."

Drei mögliche Szenarien

Dass Russland demografische Probleme hat, gab Präsident Putin vor dem Parlament Ende Februar ungewöhnlich offen zu. Laut einer Prognose des russischen Statistikamts "Rosstat" vom Oktober 2018 könnte im äußersten Falle einer negativen Entwicklung die Bevölkerung Russlands bis 2035 von derzeit 146,9 auf 138,8 Millionen schrumpfen. Auch unter günstigeren Umständen könnte der Rückgang zwei Millionen betragen.

Eine positive Entwicklung könnte hingegen zu einem Bevölkerungswachstum um sechs Millionen Menschen führen. Dies wäre aber nur dann möglich, wenn ab 2023 in Russland wieder mehr Menschen geboren werden als sterben. Doch muss bei diesem Szenario vor allem der Zustrom von Migranten deutlich zunehmen und fast eine halbe Million Menschen pro Jahr erreichen.

Wie viele Ukrainer könnten Russen werden?

Der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin erklärte im vergangenen Jahr, in Russland würden etwa drei Millionen Flüchtlinge und Arbeitsmigranten aus der Ukraine leben. Doch Oleksij Posnjak vom Institut für Demographie der Akademie der Wissenschaften der Ukraine meint, von Millionen könne keine Rede sein. Ihm zufolge fahren etwa 300.000 Ukrainer regelmäßig nach Russland. Das Angebot für einen russischen Pass werde daran kaum was ändern. "Wir rechnen nicht mit einem großen Zustrom von Ukrainern nach Russland", so der Experte.

Russland Symbolbild Pass
Bevölkerungswachstum per ReisepassBild: Vyacheslav Yurin

Wladimir Kipen vom Institut für Sozialforschung im ukrainischen Winnyzja hingegen findet, Russland könnte mit seinem Pass-Angebot bis zu zwei Millionen Ukrainer gewinnen, die Hälfte davon Arbeitsmigranten. "Putins Dekrete zielen auf diejenigen ab, die in Russland arbeiten, aber auch auf diejenigen, die in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten des Donbass leben und dort keine Perspektiven mehr sehen", so der Politologe. Zugleich betonte er, dass aus Sicht der jüngeren Menschen ein ukrainischer Pass mehr Reisefreiheit biete, darunter die visafreie Einreise in die EU.

Auch Anatolij Wischnewskij vom Institut für Demographie der Höheren Wirtschaftsschule in Moskau gibt zu bedenken, dass Russland starke Konkurrenz hat. Viele Ukrainer würden lieber nach Polen und Westeuropa auswandern. Und die Menschen aus dem Donbass kämen meist mit Problemen nach Russland. "Es sind viele Rentner", so der Experte. Ihm zufolge liegt die Geburtenrate unter den Einwanderern aus dem Donbass sogar unter dem russischen Durchschnitt, was nicht zur Lösung der demografischen Probleme Russland beiträgt.