Wozu russische Pässe für die Ostukraine?
25. April 2019Gemeinsam mit dem französischen Partner im Normandie-Format hat die Bundesregierung ein Dekret Russlands verurteilt, das darauf abzielt, Menschen, die in den selbsternannten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" leben, leichter die russische Staatsangehörigkeit zu verleihen. "Diese Regionen, wie auch der gesamte Donbass, sind Teil des ukrainischen Staatsgebiets. Die vereinfachte Erteilung der russischen Staatsbürgerschaft an die dort lebenden ukrainischen Bürgerinnen und Bürger widerspricht Geist und Zielen der Minsker Vereinbarungen. Dies ist das Gegenteil des jetzt dringend gebotenen Beitrags zur Deeskalation", so das Auswärtige Amt.
Durch die Vermittlung Deutschlands und Frankreichs wurde im sogenannten Normandie-Format unter Beteiligung der ukrainischen und russischen Seite 2015 das Minsker Abkommen erreicht. Dadurch wurde der bewaffnete Konflikt mit den von Russland unterstützten "Volksrepubliken" eingedämmt. Doch es wird immer wieder gegen die Vereinbarungen verstoßen.
Mit der Anordnung von Präsident Wladimir Putin will Moskau scheinbar seinen Einfluss in den von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine weiter ausbauen. Moskau hatte bereits von den "Volksrepubliken" ausgestellte Dokumente wie Geburtsurkunden oder Fahrzeugscheine anerkannt, was international kritisiert wurde.
Verstoß gegen Minsker Abkommen
Nils Schmid, Außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, sagte der Deutschen Welle, mit diesem Erlass habe Putin eine Gelegenheit verpasst, gegenüber dem neu gewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ein Signal der Entspannung zu setzen. "Im Gegenteil: Mit diesem Schritt verstößt Russland gezielt gegen das Minsker Abkommen und wird damit noch eindeutiger als bislang Konfliktpartei. Dies ist auch deshalb gefährlich, weil die russische Militärdoktrin vorsieht, dass man sich zum Schutz russischer Bürger im Ausland das Recht auf Gewaltanwendung vorbehält", so Schmid.
Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin, findet, Putins Schritt mache aus einer schon längst bestehenden Praxis offizielle Politik. "Sie suggeriert Hilfestellung für die Bevölkerung in den selbsternannten Volksrepubliken, soll aber vor allem den Anspruch Russlands auf die Region untermauern", erklärt Sasse im Gespräch mit der DW.
Nicht alle wollen zu Russland gehören
Die Tatsache, dass der Weg zum russischen Pass einfacher sei, sei jedoch nicht gleichzusetzen mit einer mehrheitlichen Orientierung der lokalen Bevölkerung gen Russland. Eine im März 2019 wiederholte ZOiS-Umfrage in den nicht von Kiew kontrollierten Gebieten habe gezeigt, dass die Mehrheit der dortigen Bevölkerung nach wie vor zur Ukraine gehören wolle. "Zwei Pässe zu haben wird für Teile der Bevölkerung eine Art Rückversicherung sein, die in einer unsicheren Situation einen Grad an Flexibilität bietet", so die Expertin.
Laut Sasse erhöht der Zeitpunkt von Putins Ankündigung - gleich nach der ukrainischen Präsidentschaftswahl - den Druck auf Selenskyj. Der neue Präsident müsse nun seine Wahlkampf-Aussage, nach der sich Kiew aktiver um die selbsternannten Volksrepubliken und deren Reintegration bemühen solle, in Politik umwandeln.
"Annexion von Menschen"
Das Vorgehen Russlands sei ein Hinweis darauf, dass der Kreml Verhandlungen mit dem neu gewählten ukrainischen Präsidenten aus einer Position der Stärke heraus führen wolle, meint Konstantin Skorkin vom Moskauer Carnegie Center. "Selenskyj hat sich pazifistisch geäußert, er wolle den Krieg im Donbass beenden. Sein Wahlsieg bedeutet, dass der Wunsch nach Frieden in der Gesellschaft recht groß ist", so der Experte. Er glaubt, die russischen Pässe dienten zur Abschreckung, dass die Ukraine nicht versucht, die Lage im Donbass zu verändern. "Das ist eine Warnung, dass Russland seine Bürger immer mit Gewalt schützen kann", so Skorkin.
Auch Wolodymyr Fesenko vom Ukrainischen Zentrum für angewandte politische Studien, meint, der Kreml wolle Selenskyj und sein Team dazu drängen, auf Russlands Forderungen einzugehen. "Das ist Taktik: Erst zuschlagen und dann vielleicht abschwächen", erläutert der Politologe. Mit der Vergabe russischer Pässe an die Einwohner der selbsternannten "Volksrepubliken" habe sich Moskau für eine indirekte Annexion entschieden - nicht von Territorien, sondern von Menschen. Diese könnten mit ihren neuen Pässen in Russland Sozialleistungen beziehen, aber auch arbeiten, und das löse für den Kreml bestehende demographische Probleme, sagte Fesenko.
Georgij Kassjanow, Historiker und Politologe der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, rechnet ebenfalls nicht mit einer offenen militärischen Intervention Russlands im Donbass. "Was die Annexion der Krim angeht, hält der Westen zwar weiter an den wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland fest, klammert das Thema derzeit aber politisch gegenüber Moskau weitgehend aus. Eine Militärinvasion Russlands auf dem Donbass, der weltweit als Territorium der heutigen Ukraine gilt, würde dagegen vermutlich ganz andere internationalen Folgen auslösen."