Warum die Spur im Fall Skripal nach Moskau führt
22. März 2018Eine Art Pistole, zwei Ampullen mit relativ ungefährlichen Substanzen, die bei der Mischung den hochgiftigen Nervenkampfstoff vom Typ "Nowitschok" (Neuling) ergeben. Ein Schuss aus nächster Nähe. Die Opfer - chancenlos. So könnten sich die Ereignisse im englischen Salisbury Anfang März abgespielt haben, sagt Vil Mirzayanov, der bei der Entwicklung des Kampfstoffes in der Sowjetunion in den 1970er und 1980er Jahren mitgewirkt hatte. "Es hätte auch ein Schuss daneben gereicht, um vergiftete Luft zu erzeugen. Sie hätten nichts merken können", sagt der 82-Jährige der DW, der seit über 20 Jahren in den USA lebt. Es war Mirzayanov, der 1992 die Existenz von "Nowitschok" in einem Zeitungsartikel publik machte.
Der Fall der Vergiftung des ehemaligen russisch-britischen Doppelagenten Sergei Skripal und seiner Tochter Julia schlägt immer höhere Wellen. Großbritannien beschuldigt Russland. Moskau weist die Vorwürfe mit unterschiedlichen Begründungen zurück. Mal heißt es, man hätte kein Motiv, mal wird die Entwicklung von "Nowitschok" bestritten. Russland fordert daher jetzt Beweise. Diese Beweise - oder eher Indizien - hatte London bisher nur seinen engsten Verbündeten - den USA, Deutschland und Frankreich - vorgelegt, die sich daraufhin an die Seite Großbritannien gestellt haben.
Haben die Briten eine "Smoking Gun"?
Ursprünglich hatte Ministerpräsidentin Theresa May zwei mögliche Optionen skizziert: eine direkte Handlung Russlands oder ein Kontrollverlust über chemische Waffen. Die Moskauer "Nowaja gaseta" veröffentlichte Mitte März die Einschätzung eines hochrangigen russischen Chemiewaffenexperten, der anonym bleiben wollte. Er schrieb dort, dass "Nowitschok" in den 1990er Jahren entweder an Kriminelle in Russland und im Ausland oder "in die Hände ausländischer Geheimdienste" geraten sein könnte.
Seit Moskau jedoch ein britisches Ultimatum zur Stellungnahme verstreichen ließ, zieht die Regierung May nur die erste Option in Betracht. Dabei ist bis heute unklar, wie das Gift eingesetzt wurde, ob es Verdächtigte gibt und welches Motiv der oder die Täter gehabt haben könnten. In einer Rede vor dem britischen Parlament sagte May, dass Russland dieses bestimmte Gift produziert habe und immer noch dazu in der Lage sei; dass es früher "staatlich gesponserte Morde" praktizierte und dass Moskau "einige Überläufer als legitime Ziele für Morde" betrachte.
Ob als Tatwaffe in Salisbury tatsächlich eine Pistole eingesetzt wurde, wie Mirzayanov vermutet, oder etwas anderes, ist unbekannt. Doch warum sind sich die Briten so sicher, dass die Spur nach Russland führt? Haben sie doch eindeutige Beweise? Experten meinen, dass eine Zuordnung des eingesetzten Gifts möglich ist.
Formeln offenbar bekannt
In westlichen Fachkreisen ist "Nowitschok" spätestens seit den Enthüllungen von Mirzayanov bekannt. Ein im Jahr 2000 in den USA erschienenes Handbuch über chemische Waffen beschreibt ihn als "einen der giftigsten bekannten chemischen Stoffe", stellt aber fest, dass es zu wenige Informationen dazu gibt. Mirzayanov legte 2008 nach und veröffentlichte ein Buch darüber, in dem er auch die Formeln teilweise offenlegte - allerdings ohne Schlüsseldetails.
Spitzenforscher in den USA und Großbritannien könnten nicht nur die genaue Formel von "Nowitschok" kennen, sondern auch eigene Proben haben, so ein deutscher Toxikologe und Dozent an einer Universität, der anonym bleiben möchte. "Ich gehe davon aus, dass maximal Kleinstmengen hergestellt wurden, um die physikalisch-chemischen und toxikologischen Eigenschaften zu testen und für die moderne Analytik Vergleichssubstanzen zu haben", fügt er hinzu.
Molekularstruktur wie Fingerabdruck
Im Fall Skripal wurde die Analyse im hochmodernen Chemielabor in der Porton-Down-Militäranlage bei Salisbury durchgeführt. "Wenn Großbritannien in der Lage ist, die Molekularstruktur dieser Substanzen und auch Nebenprodukte zu identifizieren, kann der Ursprung eindeutig zugeordnet werden", erklärt der Toxikologe.
"Bei der Synthese von "Nowitschok" muss ein sogenannter Promoter dabei sein. Eine Reaktion zwischen zwei Komponenten beginnt und hört sofort auf, wenn es keine dritte Komponente gibt", sagte Vil Mirzayanov. "Die Engländer kennen offenbar diesen Promoter, das sogenannte "Produkt 33", eine russische Variante vom VX-Gas. Höchstwahrscheinlich wurde ein solcher Promoter auch bei "Nowitschok" verwendet. Das ist wie ein Fingerabdruck."
Das bestätigte auch der Chemiewaffen-Experte Ralf Trapp in einem ZDF-Interview: "Es gibt Fingerabdrücke, Signaturen, die aus den Rohstoffen kommen und aus den Zwischenprodukten, die bei der Herstellung des Kampfstoffes verwendet worden sind. Das können entweder Isotopenverteilungen oder Verunreinigungen sein, die sich am Ende im Kampfstoff wiederfinden. Wenn man Zugriff zu diesen Rohmaterialen hat, kann man beweisen, dass es sich um einen Kampfstoff gehandelt hat, der aus einem bestimmten Labor gekommen ist."
Grundsätzlich sei es nicht schwer, "Nowitschok" zu identifizieren, sagte der deutsche Toxikologe. Es handele sich nicht um Gas, sondern um einen Feststoff. "Die Substanz muss als reines Pulver in die Luft gebracht worden sein oder in Form einer Lösung auf die Haut gesprüht worden sein. Die Substanz sei zudem sehr stabil: "Man hat sicherlich genügend Reste auf der Kleidung oder auf Gegenständen in der Nähe dieser Personen gefunden". Zusätzlich könne man ein solches Gift auch im Körper nachweisen.
Der Fehler des Westens
In ihrer gemeinsamen Erklärung haben Großbritannien und seine Verbündeten Russland aufgerufen, mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zusammenzuarbeiten und das Programm "Nowitschok" offenzulegen. Die Frage ist: Wie hätte Moskau es verheimlichen können?
"Es wurde von der UdSSR bewusst darauf hingearbeitet, dass bei den Abrüstungsverhandlungen über das Chemiewaffenübereinkommen diese Substanzen nicht aufgenommen wurden", meint der Toxikologe. Zwischen dem Abschluss der Verhandlungen und dem Inkrafttreten des Abkommens 1997 habe es eine Pause gegeben. In dieser Zeit wurde die Existenz von "Nowitschok" bekannt. Doch in der Liste verbotener Substanzen taucht er nicht auf. Demnach verstößt "Nowitschok" nicht gegen den Wortlaut, sondern gegen den Geist des Übereinkommens.
"Der Westen hat auf vieles was in Russland geschah ein Auge zugedrückt - und verloren". sagt Vil Mirzayanov. Die Russen hätten den Westen hinters Licht geführt. "Der Westen dachte, dass sich in Russland eine demokratische Ordnung, eine offene Gesellschaft etabliert und das Problem sich von allein löst. Sie haben den Charakter des russischen Regimes unterschätzt, der die Geheimnisse von "Nowitschok" nicht preisgeben wollte. Man hat zum ersten Mal einen eigenen chemischen Kampfstoff entwickelt und war stolz darauf." Alle anderen Nervenkampfstoffe wie Sarin oder VX seien im Ausland entdeckt worden.
Jetzt solle man Russland dazu bringen, "Nowitschok" in die Liste verbotener Substanzen bei der OPCW aufzunehmen, sagt Mirzayanov. Das würde einige Jahre dauern, doch westliche Regierungen könnten das durchsetzen. Inzwischen arbeiten auch OPCW-Experten am Fall Skripal in Großbritannien.
Eine bewusste Demonstration?
Sollte tatsächlich Russland hinter der Vergiftung stecken, bleibt die Frage: Warum würde man ein Gift nehmen, das nachweisbar ist? "Das war klar, dass der Stoff identifiziert wird", sagt der Toxikologe. Es sei denn, man habe damit bewusst etwas demonstrieren wollen - nach dem Motto: 'wir können uns erlauben, auch in anderen Ländern gegen die abtrünnigen Bürger des Landes vorzugehen", sagt er. Das sei die einzige Erklärung.