Völkerschlacht: Die andere Perspektive
16. Oktober 2013Wasser gibt es nur an einer einzigen Wasserstelle, und zwar nur kaltes. Geschlafen wird im Zelt, auf einem mit Stroh gefüllten Sack. Strom gibt es nicht, und wärmen kann man sich nur am Feuer. Henry Rauch und seine Freunde stellen den Soldatenalltag rund um die Völkerschlacht so authentisch wie möglich nach: das Leben im Feldlager, die Schlacht, das Leiden der Verwundeten im Lazarett. "Wir verzichten auf alles Moderne. Das macht den Reiz aus", sagt der Leipziger. Dass Requisiten, Uniformen, ja sogar Waffen selbst hergestellt sind, versteht sich von selbst.
Seit 26 Jahren ist Henry Rauch Mitglied des Vereins Preußen von Möckern, inzwischen ist er sogar Vorsitzender. Der Verein hat sich dem sogenannten Reenactment verschrieben. Das heißt soviel wie Wiederaufführung und meint das Nachstellen einer historischen Begebenheit. Henry Rauch ist sich bewusst, dass viele das Reenactment kritisch sehen. "Wir setzen uns nicht nur mit der militärischen Seite auseinander und versuchen Krieg zu spielen, wie das Reenactment leider oft dargestellt wird."
Die Leipziger Völkerschlacht fasziniert Menschen auf der ganzen Welt. "Es gibt unzählige Vereine in ganz Europa und in der ganzen Welt. In den USA, in Kanada, in Australien." Henry Rauchs Verein ist 20 Mann stark. "Unser Verein besteht seit 1985. Seit DDR-Zeiten gibt es viele solche Vereine in der Region, die sich mit der Völkerschlacht befassen."
Der Preis des Sieges
In der Völkerschlacht von Leipzig standen sich im Oktober 1813 bis zu 600.000 Mann feindlich gegenüber. Napoleon und seine Verbündeten einerseits, Briten, Preußen, Russen und Schweden auf der anderen Seite. Nach vier Tagen war die Grande Armée geschlagen, Napoleons Fremdherrschaft über weite Teile Europas nahm ein Ende. Doch der Preis für den Sieg war immens: 120.000 Soldaten starben - im Gefecht, an den Verwundungen oder an Seuchen wie zum Beispiel Typhus.
Jedes Jahr stellen die geschichtsbegeisterten Laien die Völkerschlacht nach. Im vergangenen Jahr waren es um die 1.000 Teilnehmer. In diesem Jahr kommen 6.000 Menschen aus aller Welt zusammen, um im kleinen Ort Markkleeberg bei Leipzig die Ereignisse vor genau 200 Jahren wiederaufleben zu lassen. Die Hauptattraktion ist das große Biwak, das Feldlager, ab dem 16 Oktober. "Wir erstellen dann die Lager der einzelnen beteiligten Nationen: Es gibt ein französisches Lager, ein Reiterbiwak, ein Biwak der Verbündeten, sprich der Preußen, Russen, Österreicher. Die Gruppen errichten ihre Zelte gemäß ihrer militärischen Ordnung, wie das damals war", erzählt Rauch.
Die Leiden der Zivilisten
Die Schlacht war auch für die Zivilbevölkerung eine Katastrophe. Die Bewohner Leipzigs und der umliegenden Dörfer erlebten die Schlacht hautnah mit. Schon seit dem Frühjahr 1813 war ganz Sachsen zum Kampfgebiet geworden. Sabine Ebert ist erfolgreiche Autorin von historischen Romanen. Sie hat drei Jahre lang über die Völkerschlacht und ihre Zeit recherchiert, ihren Wohnsitz nach Leipzig verlegt, Quellen und Tagebücher von Zeitzeugen gelesen. Ergebnis ist der 900 Seiten starke Roman "1813. Kriegsfeuer".
"Seit Anfang des Jahres 1813, als die Überreste der Grand Armée aus Russland zurück kam – krank, ausgehungert, ohne richtige Kleidung, verwundet – brachten sie den Typhus mit." Damals sei eigentlich ganz Sachsen ein Lazarett gewesen, Kirchen und öffentliche Gebäude seien umfunktioniert worden. Mit jeder Schlacht strömten mehr Verwundete in die Gegend. "Aber am schlimmsten war der Typhus, davon war auch die Zivilbevölkerung betroffen und die Ärzte. Man hatte dem kaum etwas entgegen zu setzen", schildert die Romanautorin. Den Menschen wurde das Wenige genommen, was sie noch hatten: Die letzten Vorräte wurden geplündert, das Vieh abgeschlachtet, die Häuser demoliert. "Die frierenden Soldaten haben die Dächer abgerissen, die Türen, Fensterrahmen, die Möbel verbrannt, um sich wenigstens am Feuer wärmen zu können", weiß Sabine Ebert.
Von Völkerschlacht zu Völkerverständigung
Als die Schlacht vorbei war, war die Stadt ein Ort des Elends. Einer der Zeitgenossen, der in den Oktobertagen vor 200 Jahren besonders akribisch Tagebuch schrieb, war der Musikkritiker und Komponist Friedrich Rochlitz. Am 20. Oktober 1813 notierte er:
"(...)Die Vorstädte und Alleen selbst nur von Leichnamen der Menschen und Tiere zu reinigen, daran ist noch kaum zu denken. (…) Von den Straßen dampft ein scharfer, verpestender Qualm der Exkremente von Menschen und Pferden herauf in die Zimmer."
Die dramatischen Ereignisse sind auch 200 Jahre später im Gedächtnis der Stadt und ihrer Bewohner präsent. "Es gibt sehr viele Leute, die in ihrer Freizeit dazu forschen, alte Augenzeugenberichte transkribieren und zugänglich machen", sagt Sabine Ebert. Die Aktiven der Reenactment-Szene vermitteln auch denen, die kein Geschichtsbuch in die Hand nehmen, ein Stück lebendiger Geschichte. "So bekommen die Leute einen Eindruck, wie es damals zuging."
Doch auf den Biwaks passiert noch mehr, findet Sabine Ebert. "Sie symbolisieren Versöhnung." Denn die heutigen Akteure sind die Nachfahren derer, die sich einst feindselig gegenüber standen. "Sie alle sitzen jetzt friedlich beieinander und pflegen Freundschaften. Das ist für mich ein starkes Symbol, ein Signal, das Leipzig aussendet."
"Das ist ja das Schöne", bestätigt Henry Rauch. "Man sitzt am Abend am Lagerfeuer. Russe neben Schotte, daneben ein Tscheche, ein Pole ein Deutscher. Man sitzt beieinander, versteht sich womöglich kaum. Aber wir zelebrieren ein friedliches Miteinander." Völkerverständigung kann auch ohne große Worte auskommen.
Zum Weiterlesen:
Sabine Ebert: Kriegsfeuer. 1813, München 2013.
Eckart Kleßmann: Die Befreiungskriege 1813-1815 in Augenzeugenberichten, Stuttgart 2013.