Die Schlacht, die Europa schockierte
16. Oktober 2013Der 16. Oktober 1813 war ein trüber, nasskalter Herbsttag. Es dauerte bis neun Uhr, ehe sich der Nebel verzogen hatte und drei Signalschüsse vom Beginn der Schlacht kündeten. Bis zu 600.000 Soldaten - so schätzt man - standen sich damals feindselig gegenüber. Das hatte es bis dato noch nicht gegeben. Auf der einen Seite Napoleons Armee und seine Verbündeten, auf der anderen Seite die Truppen Großbritanniens, Österreichs, Preußens, Russlands und Schwedens.
Vier Tage später, am 19. Oktober, "ist die große Schlacht gewonnen", schreibt der preußische General August von Gneisenau euphorisch an seine Frau Ottilie. "Ein Schauspiel, wie es das seit Tausenden von Jahren nicht gegeben hat. Auf meilenlangen Strecken liegen die Toten und Verstümmelten. Unser Angriff auf Leipzig war sehr blutig."
Ein furchtbares Gemetzel
Nie zuvor starben so viele Menschen in einer Schlacht. 120.000 Menschen, jeder fünfte Kriegsteilnehmer verlor sein Leben - im Gefecht, in den improvisierten Lazaretten oder, wenn die überfüllt waren, buchstäblich auf der Straße. Johann Christian Reil war Professor für Medizin an der Berliner Universität und einer der bedeutendsten Ärzte seiner Zeit. Im Auftrag des preußischen Staatsmannes Freiherr vom Stein schrieb er einen ebenso eindringlichen wie schonungslosen Bericht über die Situation in Lazaretten.
"Ich schließe meinen Bericht mit dem grässlichsten Schauspiel, das mir kalt durch die Glieder fuhr und meine ganze Fassung lähmte. Nämlich auf offenem Hofe der Bürgerschule fand ich einen Berg, der aus Kehricht und Leichen meiner Landsleute bestand, die nackend lagen und von Hunden und Raben angefressen wurden, als wenn sie Missetäter und Mordbrenner gewesen wären. So entledigt man die Überreste der Helden, die dem Vaterlande gefallen sind!"
Verzweifelt appellierte Reil an den Politiker Freiherr vom Stein, die Lage der Kranken zu bessern. Nicht einmal einen Monat später, am 22. November 1813, starb der Arzt selbst - an Typhus. Nach der Schlacht grassierte die Seuche und raffte neben Soldaten auch viele Ärzte und Tausende Zivilisten dahin.
Das Ende einer Ära und eine beginnende Einsicht
Vier Tage nachdem die blutige Schlacht begonnen hatte, musste sich Napoleon geschlagengeben. Doch Napoleon verlor mehr als nur eine Schlacht, denn die Niederlage von Leipzig markierte den Anfang vom Ende seiner Herrschaft über Europa. Angesichts des massenhaften Sterbens setzte sich unter den Herrschern eine Einsicht durch: Es musste möglich sein, Konflikte auf dem Verhandlungsweg zu lösen. "Das ist das erste Mal, dass man von einem kriegerischen Ereignis so schockiert war, dass man gesagt hat, wir müssen einfach nach anderen Lösungsmöglichkeiten suchen", sagt der Historiker Steffen Poser. Er leitet das Museum Völkerschlachtdenkmal. "Zum ersten Mal wird die Frage gestellt: Geht es nicht auch anders? Das führt am Ende zum Wiener Kongress, ein in der Geschichte vielgescholtenes Ereignis, weil es seine Macken und Fehler hatte."
In der österreichischen Hauptstadt kamen von September 1814 bis Juni 1815 Vertreter aus ganz Europa zusammen, um die Landkarte des Kontinents nach dem Fall Napoleons neu zu ordnen. Das Gleichgewicht der fünf europäischen Großmächte - Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland - wurde wieder hergestellt. Die Monarchen nutzten die Zusammenkunft, um liberale Strömungen gemeinschaftlich zu unterdrücken und demokratische Errungenschaften aus der napoleonischen Zeit zu kassieren. Trotz aller Unzulänglichkeiten: Der Wiener Kongress bescherte dem geschundenen Kontinent eine fast vierzig Jahre währende Verschnaufpause - ohne Kriege zwischen den Großmächten.
Unterschiedliche Perspektiven
Während in Deutschland das Gedenken an den Oktober 1813 großen Stellenwert genießt, ist das bei den anderen siegreichen Großmächten so nicht der Fall - Beispiel Russland. Zwar hatte das Zarenreich mit 22.000 toten Soldaten die größten Verluste zu beklagen, doch in der russischen Geschichtsschreibung überstrahlt der Sieg über die französischen Invasoren von 1812 die Ereignisse von Leipzig bei weitem. Und auch in Österreich, "wird das Thema längst nicht so hoch bewertet", sagt die österreichische Expertin für die Befreiungskriege, Alexandra Bleyer.
In Deutschland ist das Thema Völkerschlacht immer noch mythenumwölkt, findet Sabine Ebert. Sie hat drei Jahre vor Ort recherchiert und auf Basis des gesammelten Materials einen historischen Roman geschrieben. "In der Geschichtsbetrachtung, im Bewusstsein vieler Menschen ist es gängig, diese Zeit als Befreiungskriege zu betrachten, als Ära der Erhebung des Volkes gegen die Besatzer, in der das Volk für Reformen und den Fortschritt kämpfte." Eine Befreiung aller von Frankreich besetzten Völker aus der Unterdrückung durch Napoleon. Das aber sei von den Herrschern nie intendiert gewesen. "Ihnen ging es um die Verteilung von Land, die Eroberung von Land, die Wahrung ihrer Interessen und die Mehrung von Macht."
Falsche Mythen und steinige Wege
Ein weiterer, falscher Mythos kreist um das Ereignis. Demnach ist die Völkerschlacht die Geburtsstunde der deutschen Nation der Neuzeit. Zum Hintergrund: Vor der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 war Deutschland nur ein loser Staatenbund. Die Befürworter eines vereinigten deutschen Nationalstaates im 19. Jahrhundert versuchten, die Kriege gegen Napoleon für ihre Zwecke politisch und propagandistisch zu nutzen. "Der Versuch, die Befreiungskriege mit dem zentralen Ereignis der Völkerschlacht dem deutschen Gründungsmythos einzuverleiben, hat dazu geführt, dass die Bedeutung in Deutschland wesentlich anders gesehen wird als von außerhalb", erklärt Steffen Poser.
Auch ohne Mythos und Pathos sind die Ereignisse vor 200 Jahren wichtige Daten nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Geschichte. Burkhard Jung, Oberbürgermeister von Leipzig, ruft ins Gedächtnis, dass Europa in Folge der Völkerschlacht zu einer neuen Ordnung gefunden hat. "Auch wenn Napoleon in Leipzig geschlagen wurde, so hatten die Ideen der französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit doch ihren Weg durch Europa gefunden." Jung sieht eine historische Kontinuität vom Wiener Kongress, über zwei blutige Weltkriege bis hin zum europäischen Einigungsprozess unserer Tage.
Darin sieht auch Steffen Poser das Vermächtnis von Leipzig für die Gegenwart. "Es ist ein wichtiges Ereignis unserer gemeinsamen europäischen Geschichte, als eine Marke auf einem sehr steinigen Weg zu einer weitgehend friedlichen Gesellschaft, in der wir heute leben dürfen."
Zum Weiterlesen:
Sabine Ebert: Kriegsfeuer. 1813, München 2013.
Die Befreiungskriege in Augenzeugenberichten, herausgegeben und eingeleitet von Eckart Kleßmann, Stuttgart 2012.
Alexandra Bleyer: "Auf gegen Napoleon! Mythos Volkskriege", Darmstadt 2013.
Gerd Fesser: "1813 - Die Völkerschlacht bei Leipzig", Quedlinburg 2013.