Vor zehn Jahren starb Christoph Schlingensief
20. August 2020"Das Wort All-Round-Künstler klingt immer so komisch, aber irgendwo war er das schon", sagt Bettina Böhler. Sie hat die frühen Filme des vor zehn Jahren gestorbenen Christoph Schlingensief geschnitten, später für viele andere Regisseurinnen und Regisseure gearbeitet. Jetzt bringt sie zum zehnten Todestag des All-Round-Künstlers den Dokumentarfilm "Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" in die Kinos. Es ist ihre erste eigene Regiearbeit.
Wie kann man Christoph Schlingensief, 1960 in Oberhausen geboren und im August 2010 an Krebs gestorben, einem heutigen Publikum nahe bringen? War er nur ein Trashfilm-Regisseur oder ein künstlerischer Provokateur und professioneller Dilettant? Oder war dieser junge Mann - den jugendlichen Habitus bewahrte er sich bis zu seinem frühen Tod im Alter von 49 Jahren - ganz einfach ein begnadeter Performance-Künstler?
Schlingensief begann als Filmregisseur und bespielte später alle Bühnen
Man könnte Seiten füllen mit Charakterisierungen des Künstlers, der als Jugendlicher mit seiner Schmalfilmkamera Experimentalfilme inszenierte, später in Bayreuth bei den Wagner-Festspielen Regie führte und bei künstlerischen Mammutschauen in Venedig und der documenta in Kassel Deutschland vertrat. Doch man sollte nicht vergessen: Christoph Schlingensief wurde stets kontrovers betrachtet.
"Er war zu Lebzeiten und eigentlich bis zum Schluss, auch wahnsinnig umstritten und es gab im Grunde nicht viele Leute, die ihn gemocht und geschätzt haben", blickt Bettina Böhler zurück. Heute werde das oft vergessen: "Wenn jemand nicht mehr lebt und ein Werk hinterlassen hat, wird der plötzlich zu einem Helden stilisiert. Aber man darf nicht vergessen, dass er zu Lebzeiten wahnsinnig viel Gegenwind bekommen hat - und im Grunde nie wirklich diese Anerkennung, die ihm jetzt eben zukommt."
Vermutlich hätte sich Schlingensief auch gar nicht wohl gefühlt im bildungsbürgerlichen Mainstream. Dafür haben ihn die Provokation, das Unangepasste, das Verstörende zu sehr gereizt.
Mit Megafon und provokanter Geste: Christoph Schlingensief
Vielleicht bestand darin auch die Essenz seiner Kunst. Ob im Film, am Theater und in der Oper, auf den Straßen, wo er seine Performances in den Einkaufsmeilen der Städte inszenierte oder in legendären Aktionen in der Natur, wie 1998, als er am Urlaubsort von Kanzler Helmut Kohl gegen dessen Politik zu Felde zog: Schlingensief liebte die Provokation mit großer Geste, auch humorvoll und ironisch und manchmal ein wenig albern.
Doch damit verärgerte er viele: Politiker und feinsinnige Kunst-Ästheten, große Teile des "normalen" Kunst-Publikums, Konservative sowieso. Aber er hatte auch seine Fans. Die, die den Anhängern der Ära Kohl endlich mal eins auswischen wollten. Und jene, die Kunst nicht im subventionieren Theater- und Museumsbetrieb verankert sahen. Also alle, die die Provokation liebten, das Unangepasste, das Grelle.
Schlingensief: mehr als ein Kunst-Provokateur
Böhler sagt im DW-Gespräch, Christoph Schlingensief sei jemand gewesen, "der die Welt durch ganz spezielle Augen gesehen hat und einfach alles, was um ihn herum war, genauestens beobachtet hat, und das intelligent gedreht hat, verwandt hat, um die Haltung zu dieser Welt, die ihn umgibt, auszudrücken - mit Hilfe seiner Kunst, dem Film, dem Theater, und in den Aktionen."
Doch Schlingensief lediglich als künstlerischen Provokateur zu beschreiben, als Künstler, dem es nur um Aufmerksamkeit mit bunten, politisch angehauchten Kunstaktionen gegangen ist, greift zu kurz.
Dagegen wendet sich auch Böhler: "Schlingensief war jemand, der mit wahnsinnig viel Empathie auf die Menschen und die Dinge geschaut hat. Das zeichnete ihn aus. Das sollte man eigentlich gar nicht meinen, weil er immer als Chaot galt - nach dem Motto: Ja, da kommt der Schlingensief, Haltet Euch fest, der tut uns weh!"
Für Böhler war Schlingensief viel mehr: "Das war im Grunde ein ganz empathischer und herzlicher und warmherziger Mensch, der einfach eine Wut hatte auf ganz bestimmte Zustände in diesem Land und in dieser Welt. Und dieser Wut auch Ausdruck gegeben hat mit dieser Kunst."
Angehen gegen Verdrängen, Vergessen, Verschweigen...
Wut ist eine Erklärung. Christoph Schlingensief war ein Nachkomme der "68er" Generation: In den 1980er und 1990er Jahren hat er sich mit allen seinen künstlerischen Visionen immer wieder gegen das Vergessen der Nazizeit und der historischen Geschehnisse in Deutschland gewandt. Den Mantel des Verdrängens wollte er vollständig ablegen.
Die Studentenproteste der Jahre 1967 und 1968 hatten in der Bundesrepublik zwar den Anstoß für gesellschaftliche Veränderungen gebracht, doch vieles war - so Schlingensief - noch nicht angekommen bei den Menschen. Zumindest wurde es in der Ära Helmut Kohl erneut verdrängt. Genau dagegen wollte Christoph Schlingensief mit seinen künstlerischen Mitteln angehen.
Er war ein politischer Künstler, keine Frage. Schlingensiefs Wirken ist aus seiner Generation her zu erklären. Das war nicht mehr die, die auf der Straße gegen Vietnam protestierte oder sich später in der RAF-Ideologie verirrte. Schlingensief war ein Kind der 80er und 90er Jahre.
Seine Kunst war verankert in deutscher Historie und Schuldverstrickung
Doch die Wut gegen das "Große Schweigen" der Nachkriegszeit war geblieben: "Die sind aufgewachsen in einer Nachkriegsgeneration und Gesellschaft - bei Eltern, die die Kriegszeit und den Nationalsozialismus noch bei vollem Bewusstsein erlebt haben, zwar nicht als Täter, aber sie wurden eben geprägt davon, sie wurden zum Teil traumatisiert", erzählt Bettina Böhler, die wie Schlingensief 1960 geboren wurde.
"Wir sind von diesen Eltern großgezogen worden und in dieses Land sind wir hineingeboren. Und, wie wir inzwischen wissen, in diesen ersten 15 bis 20 Jahren nach dem Krieg, ist in diesem Land ja so gut wie nicht darüber gesprochen worden, was damals alles so passiert war."
So erklärt sich auch der Titel von Böhlers Film, der ausschließlich auf Archivmaterial setzt und auf Kommentare verzichtet: "Wir sind in ein Schweigen hineingeboren worden in eine Gesellschaft, die einfach sehr verkrustet war, natürlich eine große Scham und Schuld auf sich geladen hatte, aber darüber nicht reden und sie nicht bearbeiten konnte."
Schlingensief bespielte eine andere Seite des deutschen Kulturbetriebs. Als Filmemacher stand er nicht Wenders und Schlöndorff nahe mit ihren literarischen, feinsinnig grundierten Filmen. Er machte da weiter, wo Fassbinder einst begonnen hatte, aber noch greller, noch schriller. Und seine Bühnenarbeiten waren nichts für ein sensibles Theaterpublikum à la Peter Stein und Berliner Schaubühne.
Trump-Bashing oder Corona-Diskurs: Was würde Schlingensief heute machen?
Christoph Schlingensief war einer der ersten, der das Theater aus den subventionierten Kunst-Tempeln herausholte und auf die Straße mitten unter die Menschen brachte. Da war dann auch der Weg zur Kunst-Performance nicht mehr weit. Ob Schlingensiefs letzte Arbeiten, so auch das Operndorf in Burkina Faso, dem Theater oder der Kunst zuzurechnen sind, das ist im Grunde genommen egal. Schlingensief hat sich um solche Formalia nie geschert.
Schlingensiefs Kunst-Antrieb bestand in einer rastlosen Beschäftigung mit der Gesellschaft. Noch einmal Bettina Böhler: "Dadurch entsteht, wenn auch mehr unbewusst, eine Unruhe in einem Teenager, einem jungen Menschen, der sagt: Irgendwas stimmt hier nicht, ich muss hier mal lauter reinhauen, ich muss hier mal in dieser Gesellschaft etwas aufrütteln. Das ist immer das, was ihn bewegt hat."
Heute würde Schlingensief genug Stoff haben für seine Kunst. Flüchtlinge, Rassismus, Verschwörungstheorien in Corona-Zeiten, all das wäre ein gefundenes Fressen für diesen zu früh Verstorbenen. "Solche Leute fehlen heute wirklich", sagt Bettina Böhler.