Reisen virtuell: ferne Gipfel und Städte
10. Mai 2020Reiseveranstalter und Touristiker überschlagen sich gegenwärtig mit Hinweisen, dass Wunschziele in der vernetzten Welt ja auch digital zugänglich sind. Das wird gerne mit der Einschränkung verknüpft, dass virtuelles Reisen das eigene Erleben nicht ersetzt. Aber vielleicht motiviert es Touristen für einen zukünftigen Besuch.
Von Küsten und Flusslandschaften
Auf der Nordseeinsel Sylt ist seit Mitte März tote Hose. Die Insel ist Teil des Bundeslandes Schleswig-Holstein und wie andere Inseln besonders von den Beschränkungen betroffen. Erst ab Ende Mai dürfen die ersten Besucher wieder kommen. Die Touristen-Info ist geschlossen, Anfragen werden nur per Mail beantwortet. Und was bietet die Insel virtuell? Unter dem Motto "Sylt macht sychtig" gibt es einen Imagefilm, der schon seit 2015 auf YouTube ist. Darüber hinaus Hinweise auf Spielfilme und Romane über die Insel.
Auf Rügen, der größten deutschen Insel, ist man da aktueller. Dort heißt es auf der Homepage "Wiedersehen macht (Vor)Freude", und das Versprechen: "Bis dahin gibt es virtuelle Inselerlebnisse".
Im April gab es dort drei Live-Übertragungen unter dem Titel Fernbeziehung, bei denen aktuelle Impressionen von Lauterbach, Binz und Sellin von einem DJ vor Ort musikalisch untermalt wurden. Die etwa einstündigen Videos ersetzen keine Reise, sind aber unverkennbar im Hier und Jetzt entstanden. Ein einsamer DJ und sonnige aber menschenleere Impressionen vom Ostseestrand. Wer durchhält, bekommt sogar die berühmten Kreidefelsen zu sehen.
Die sächsische Schweiz war schon bei Malern vergangener Jahrhunderte ein begehrtes Reiseziel. Es bietet unter dem Hashtag #Sehnsuchtsstiller neben Solidaritätsadressen, Gutscheinen, Rezepten und Reiseberichten nur den Hinweis auf einen YouTube-Kanal. Das letzte veröffentlichte Video ist jedoch fünf Monate alt.
Das Obere Mittelrheintal, eine Kulturlandschaft, die zum Welterbe der UNESCO zählt, hat virtuell leider wenig zu bieten. Wer sucht, findet immerhin drei Webcams, durch die man von Koblenz, Oberwesel und dem Drachenfels auf den Rhein schauen kann.
Der Touristikverband an der Mosel beschränkt sich ebenfalls auf des Nötigste, neben dem Hinweis, dass Prospekte versandt werden, gibt es unter dem Hashtag #visitmoselsoon das Kochvideo für ein Fischgericht auf dem Facebook-Kanal.
Was ist mit Neuschwanstein?
Die bayerische Schlösserverwaltung verweist auf ihrer Homepage darauf, dass Besucher gegenwärtig nur virtuell durch die Museen flanieren können. So kann man sich mit der Maus durch die Schlösser des Märchenkönigs Ludwig II. klicken oder einer 3-D Animation folgen. Dabei würde "die Grenze zwischen Realität und virtuellem Modell" überschritten.
Das Beispiel Neuschwanstein zeigt bei allem Fotorealismus, dass manch eine Sehenswürdigkeit ohne Publikum viel von ihrer Eindrücklichkeit verliert. Das Bild zu sauber, zu aufgeräumt, ohne Menschen fehlt eine wesentliche Bezugsgröße. Wer sich inspirieren lassen möchte, vom Märchenschloss und seiner Geschichte, findet auf der Homepage immerhin den Link auf eine Fernsehdokumentation, die etwas von der Faszination vermittelt, die das Schloss auf seine Besucher ausübt.
Wie es besser geht, zeigt der Tourismusverband Bayern. Unter dem Motto "Bayern für dahoam" gibt es ein buntes Allerlei: Kurze Videos, in denen sich das Land mit seinen Klischees und mit Augenzwinkern darstellt. Landschaftsfotos als Hintergrund für den heimischen oder mobilen Bildschirm. Eine Spotify-Playlist oder den Podcast Hock di her (Setz dich zu mir). Darin erzählen Menschen aus Bayern ihre Geschichte, von der Äbtissin im Kloster, über den Jungwinzer bis zur Hüttenwirtin der ersten vegetarischen Alpenhütte.
Von Fachwerkstädten und Ruinen
Vielen Reisezielen in Deutschland sieht man das Bemühen an, sich virtuell zu präsentieren, doch sind sie oftmals nicht in der Lage, mehr als ältere Videos anzubieten, wie zum Beispiel Rothenburg ob der Tauber. Auf der Homepage der Romantischen Straße, der berühmtesten Ferienstraße Deutschlands, gibt es gar nichts, keinen Hinweis auf die Krise, keine digitalen Angebote.
Auch Heidelberg mit seiner weit über die Grenzen des Landes bekannten Ruine am Hang des Neckars verbreitet außer aktuellen Hinweisen über die Reise- und Gastronomiebeschränkungen nur das Versprechen seines Marketing Geschäftsführers Mathias Schiemer: "Wir wollen gerüstet sein, wenn sich Heidelberg seinen Gästen wieder als romantische Festival- und Wissenschaftsstadt präsentieren darf - gemäß dem Motto 'Jetzt erst recht!'"
Berlin, München und Hamburg
Und was macht die Hauptstadt? Die mit 14 Millionen Touristen meistbesuchte Stadt Deutschlands? Das Stadtmarketing verweist auf den Senat, der die Homepage Berlin (a)live geschaffen hat, auf der die zahlreichen Livestreams aus Berlin zu finden sind, aus Ateliers, Clubs oder dem Konzerthaus.
Auch in München beschränken sich die virtuellen Angebote auf eine Linkliste der berühmten Museen und anderer Kultureinrichtungen in der Stadt. Originell immerhin sind die Bastelltipps. Ganz analog gibt es Anleitungen, wie man etwa die Frauenkirche, den Monopteros im Englischen Garten mit den in der Corona-Krise so berüchtigten Klopapierrollen nachbauen kann.
Hamburg-Interessierten seien die virtuellen Angebote der Elbphilharmonie empfohlen. Neben zahlreichen Konzertmitschnitten besonders interessant, die "Zuhaus-Führungen". In ein bis zweiminütigen Videos kann man sich das spektakuläre Konzerthaus anschauen. Vom Hauptsaal über den Backstage Bereich bis zu architektonischen Details.
Alpenwebcams und einsame Spaziergänge
Der Reiz des virtuellen "Dabeiseins" liegt vor allem in der Gegenwärtigkeit. Wenn man zu Hause sehen kann, wie es gerade dort aussieht, wo man vielleicht mal hin will. Solche Bilder finden Interessierte schon seit Jahren jeden Morgen in der 3Sat-TV-Sendung Alpenpanorama. Gezeigt werden Livebilder zahlreicher Web- und Panoramakameras von Gipfeln und Reisezielen in den Alpen. Ganz ohne Kommentar.
Daran mögen auch die Thüringer Marketingstrategen gedacht haben, als sie während der Corona-Krise ihre virtuellen Spaziergänge initiiert haben. Unter dem Titel Sonntagsspaziergang bekommt der Zuschauer genau das: die subjektiven, leicht schwankende Videoaufnahmen eines Wanderers, etwa eine halbe Stunde lang. Ziemlich dokumentarisch, keine Musik, aber mit Vogelgezwitscher, andere Menschen begegnen ihm kaum. Man hört Schritte, während der namenlose Spaziergänger durch Erfurt geht oder über den Rennsteig zur Wartburg. Und kann sich als Zuschauer sicher sein, so menschenleer und besonders wird es nach der Krise gewiss nicht sein.
Reisen ist Sehnsucht
Die digitale Welt ermöglicht Echtzeit-Übertragungen und neue Perspektiven. Auch wenn manche Versprechungen, das Reiseerlebnis nach Hause zu holen, ein wenig übertrieben scheinen, so haben sie doch eines gemein: Sie zeugen vom Wunsch der Reisedestinationen nach Publikum und befördern die Sehnsüchte derer, die ihren nächsten Urlaub erst einmal nur planen können.