Selenskyj: vom Komiker zum Krisenmanager
25. Februar 2022Ausgerechnet ein Quereinsteiger, ein Schauspieler, ein Polit-Clown, unterschätzt selbst von seinen Anhängern, greift nach dem höchsten Amt im Land? Eigentlich undenkbar, doch der Mann hat etwas, was vielen Politikern abgeht und ihn gerade in Krisenzeiten über sich hinauswachsen und zu Hochform auflaufen lässt: Er ist ein herausragender Kommunikator. Viele seiner Sätze bleiben noch lange im Gedächtnis, finden irgendwann den Weg in die Geschichtsbücher.
Ronald Reagan, 1980 zum 40.Präsidenten der USA gewählt, sagt am 12. Juni 1987 am Brandenburger Tor den meistzitierten Satz der Wendezeit. "Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor. Reißen Sie diese Mauer ein."
45 Jahre später begrüßt ein Mann mit einem ähnlichen Lebenslauf seine Landsleute in den Videobotschaften mit "Freies Volk! Freies Land!" Wolodymyr Selenskyj sagt Sätze wie "Wir Ukrainer sind eine friedliche Nation. Aber wenn wir heute schweigen, sind wir morgen verschwunden!" Und kritisiert die mangelnde Unterstützung des Auslands aufs Schärfste: "Wir brauchen eine Anti-Kriegs-Koalition. Wir verteidigen unseren Staat allein. Die mächtigsten Kräfte aus der Welt schauen zu."
Vom "Diener des Volkes" zum Präsidenten der Ukraine
Ronald Reagan, vor 18 Jahren gestorben, wird von vielen Menschen in den USA immer noch wie ein Heiliger verehrt. Selenskyj baut gerade kräftig daran, sich in der Ukraine einen solchen Status aufzubauen. Allerdings ist dabei nicht ganz klar, was in den nächsten Tagen und Wochen mit ihm passieren wird: Es kursieren Meldungen, dass Selenskyj von Russland getötet werden soll. Er selbst mutmaßt, dass der russische Angriff ihn stürze solle. Der Feind habe ihn zum Ziel Nummer Eins erklärt.
Vom Entertainer, der in der beliebten Serie "Diener des Volkes" die Korruption und Misswirtschaft in der Ukraine vor einigen Jahren satirisch aufs Korn nimmt, hat sich Selenskyj zu einem ernsten Staatsmann entwickelt, der in der Krise scheinbar mühelos den richtigen Ton trifft. Vielleicht gerade weil er vor seiner Präsidentschaft als Showmoderator, komödiantischer Schauspieler und rhetorisches Ausnahmetalent gelernt hat, mit welchen Worten man eine möglichst große Wirkung und Wucht erzielen kann.
Während die Situation in der Ukraine angesichts des russischen Angriffs immer bedrohlicher anmutet, werden Selenskyjs Appelle jedes Mal eindringlicher und pathetischer, Beobachter halten seine Rede kurz nach der russischen Invasion für die beste seines Lebens. Emotional, todesmutig und gleichzeitig bestimmt sagt er zu den russischen Truppen: "Wenn Ihr angreift, dann werdet Ihr unsere Gesichter sehen, nicht unsere Rücken!"
Auch auf Twitter beherrscht der ukrainische Präsident perfekt die Klaviatur der Kommunikation. Im Stundentakt feuert er präzise Statements in die Welt, bedankt sich am Freitagmittag auf Ukrainisch und Englisch bei Schweden für die militärische, technische und humanitäre Unterstützung. Und schließt mit dem prägnanten Appell: "Lasst uns zusammen eine Anti-Putin-Koalition bilden!"
Der mediale Zweikampf mit Wladimir Putin
Es gehört zur paradoxen Geschichte dieses Krieges, dass die Ukraine den russischen Angreifern militärisch hoffnungslos unterlegen ist, Selenskyj aber Wladimir Putin rhetorisch klar nach Punkten besiegt. Nach der wirren einstündigen Rede des russischen Präsidenten zur Anerkennung der ostukrainischen Separatistengebiete beruhigt Wolodymyr Selenskyj seine Landsleute: "Keine Panik! Wir sind stark und auf alles gefasst. Wir werden alle besiegen, denn wir sind die Ukraine!" - und verhindert damit eine Massenpanik.
Überhaupt Putin: Wenn der russische Präsident von einem "Genozid" in der Ostukraine spricht und von einer "Entnazifizierung" als Kriegsgrund schwadroniert, muss das gerade für Selenskyj wie der blanke Hohn sein. Der ukrainische Staatschef, in einer russischsprachigen Familie aufgewachsen, ist jüdischer Herkunft. Sein Großvater war bei der Roten Armee, dessen Bruder fiel dem Holocaust zum Opfer.
Selenskyjs Zustimmungswerte vorher lange im Keller
Wahrscheinlich war Selenskyj in der Ukraine noch nie so populär wie jetzt. Dabei waren viele seiner Landsleute vor dem Krieg mit Russland alles andere als zufrieden mit ihrem Staatsoberhaupt. Sein vollmundiges Versprechen beim Amtsantritt vor drei Jahren, den Konflikt in der Ostukraine zu beenden, konnte er nicht einhalten. Die Fortschritte im Minsker Abkommen blieben aus, stattdessen lösten sich die Vereinbarungen mehr und mehr in Luft auf.
Nicht unerwähnt bleiben darf der Skandal um die Pandora Papers, in die ausgerechnet Selenskyj bzw. sein Umfeld verwickelt sein soll. Recherchen eines internationalen Journalisten-Netzwerks förderten zu Tage, dass Selenskyj Offshore-Firmen hält, die auf Umwegen von einem Oligarchen bezahlt wurden.
Nach dem Angriff Russlands droht erneut ein Kalter Krieg
Ronald Reagan gilt Ende der 1970er Jahre übrigens als Mann von gestern, bei den internen Vorwahlen der Republikaner zur Präsidentschaftskandidatur war er 1968 an Richard Nixon und 1976 an Gerald Ford gescheitert. Doch als 1979 die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert und der Kalte Krieg wieder aufflammt, gewinnt Regan ein Jahr später die Wahl gegen den glücklosen Jimmy Carter.
Mehr als vier Jahrzehnte später und nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht die Welt nun vor einer neuen Version des Kalten Krieges. Wolodymyr Selenskyjs Rolle darin steht noch nicht fest.