Volksbefragung in Kabul
17. Dezember 2013In ganz Afghanistan sollen in den kommenden Jahren aktuelle und verlässliche Bevölkerungsdaten erhoben werden. In Bamian und zwei kleineren Provinzen ist die Befragung mit UN-Unterstützung (Socio-Demographic and Economic Survey, SDES) bereits abgeschlossen, seit einigen Tagen sind die Volkszähler auch in Kabul unterwegs. Ob es eher vier oder fünf Millionen Menschen sind, die in der afghanischen Hauptstadt leben, weiß niemand genau. Die letzte Volkszählung gab es hier 1970, damals lebten etwa 650.000 Menschen in Kabul.
Aber den Statistikern geht es nicht allein um die Einwohnerzahl: Es sollen möglichst genaue Daten über die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Einwohner Kabuls erhoben werden. Also beispielsweise über die Zahl der Haushalte, die Altersstruktur der Bevölkerung, über den Zugang zu Bildung und Trinkwasser, über den Beschäftigungsstatus. Nutzen soll die Umfrage vor allem den Ministerien der Regierung sowie Hilfsorganisationen, die immer wieder betonen, dass es Planungsprobleme gibt, weil sie die demografischen und sozio-ökonomischen Daten in Afghanistan nicht kennen.
"Haben Sie Teppiche?"
Insgesamt 4000 Interviewer sollen das jetzt ändern: Ausgestattet mit Fragebogen und Stift gehen sie von Tür zu Tür. "Gestern waren sie bei uns zu Hause und haben alle möglichen Fragen gestellt", berichtet Mir Ahmad der Deutschen Welle. "Ist das Haus massiv oder nicht? Haben Sie Teppiche? Die Anzahl der Familienmitglieder, die Arbeit, das Einkommen, Bildungsabschlüsse, selbst über die Toiletten haben sie uns ausgefragt. Ob wir Fernseher, Radio, Computer und Handys haben, Motorrad oder Auto. Das waren so die Themen, über die wir gesprochen haben.“
Bei Ahmad zu Hause haben die Interviewer Antworten bekommen; das ist aber nicht selbstverständlich. Mohammad Same Nabi, Leiter der städtischen Statistikbehörde, berichtet: "In einigen Gegenden, wo die Mafia und Warlords ihre Reviere haben, können wir nicht an die Haustüren klopfen. Diese Männer wollen nicht, dass wir eine Umfrage durchführen."
Keine Auskunft über weibliche Familienmitglieder
Auch afghanische Traditionen erschweren die Datensammlung. So ist es bei vielen Familien üblich, einem Mann nicht die Tür zu öffnen, solange keines der männlichen Familienmitglieder zu Hause ist. Männliche Interviewer müssen es teilweise mehrmals versuchen oder spät abends wiederkommen, wenn die meisten Familienmitglieder anwesend sind.
In einigen Familien weigern sich die Männer sogar, die Namen ihrer Frauen und Töchter anzugeben, weil dies bei sehr traditionellen Afghanen als unehrenhaft gilt. "Bei einigen Themen bitten wir die Befragten dann, dass sie wenigstens die Anzahl der Frauen im Haushalt nennen sollen. Leider stößt auch das teilweise auf Ablehnung", berichtet Fahim Niazi, leitender Mitarbeiter des Umfrageteams in Kabul.
Es gibt eigentlich ein ganz einfaches Mittel, diese Barrieren zu überwinden: weibliche Interviewer. Seddiqa Rasooli ist eine von ihnen: "Seit einer Woche arbeiten wir jetzt und bisher ist es noch nicht vorgekommen, dass uns jemand nicht in die Wohnung gelassen hat oder nicht mit uns reden wollte."
Umfrage als Chance für Frauen
Es ist davon auszugehen, dass gerne mehr Frauen bei dieser Umfrage mitmachen würden als es tatsächlich tun. Denn sie werden vom Bevölkerungsfonds der UN (UNFPA) vorbereitet und ausgebildet und haben damit auch später bessere Berufschancen. Aber die meisten Frauen brauchen auch heute noch die Erlaubnis ihrer Familie, wenn sie derartige Tätigkeiten ausüben wollen. Bei der Umfrage in der Provinz Bamian waren von 500 Interviewern rund 100 Frauen, und dort herrschen nach Einschätzung von Kennern des Landes liberalere Sitten in Bezug auf Frauenrechte.
Die Interviewer, egal ob männlich oder weiblich, müssen manchmal mit Unehrlichkeit rechnen. Manche befragten Familien schwindeln, weil sie sich dadurch mehr Unterstützung erhoffen: "Zum Beispiel sagen sie, es gebe fünf Familienmitglieder, aber es sind nur vier. Fragt man dann nach dem Namen der fünften Person, herrscht betretenes Schweigen."
Weitere Provinzen sollen folgen
Dennoch geht das Umfrageteam davon aus, dass die meisten Kabuler die Befragung für sinnvoll halten, so wie Amir Ahmad: "Es wäre wünschenswert, wenn dadurch vor allem Krankenhäuser und Schulen besser geplant werden könnten." Es gibt auch Einwohner, die sich von der Regierung im Stich gelassen fühlen und sich deshalb der Befragung verweigern. "In diesem Fall schicken wir auch Angestellte unseres Büros oder wir selbst gehen hin", berichtet Fahim Niazi. Nützt auch das nichts, werde die betreffende Familie beziehungsweise ihre Wohnung als "nicht teilnehmend" markiert.
Die aktuelle Befragung in Kabul wird von Großbritannien finanziert. Technische Unterstützung und Ausbildung werden aus dem Finanztopf der Vereinten Nationen bestritten. Für eine landesweite Datenerhebung als Grundlage eines wirksamen Wiederaufbaus in Afghanistan sollen weitere Provinzen bald folgen - soweit es die Sicherheitslage zulässt.