Ärzte und Medizinethiker kritisieren Vierlingsgeburt
27. Mai 2015"Sie sind alle ganz zerbrechlich, aber ganz süß", beschreibt Prof. Christoph Bührer, Neonatologie-Chef der Berliner Charité, die Vierlinge, die die Lehrerin Annegret R. am 19. Mai zur Welt brachte. Bei der weltweit ersten Mehrlingsgeburt durch eine 65-jährige Frau gab es nach Aussage von Bührer keine besonderen Komplikationen. Allerdings kamen die drei Jungen und ein Mädchen 15 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin und sind damit "sehr unreife Frühchen". "Vierlinge kommen im Mittel acht bis zehn Wochen zu früh zur Welt", erläuterte Bührer.
Neeta, Dries, Bence und Fjonn, geboren mit zarten 655 bis 960 Gramm und nur 30 bis 35 Zentimeter lang, gehe es zwar gut. Über den Berg seien sie allerdings noch lange nicht. Zwei der vier Babys würden bereits spontan atmen, bei den anderen beiden Kindern sei rund eine Woche nach der Geburt weiter eine Beatmungsmaschine nötig. Dem kleinen Mädchen - laut Bührer "eigentlich die Fitteste von allen vieren" - mussten bei einer Operation kleine Löcher im Darm geschlossen werden.
Vierlinge weiter auf Intensivstation
Alle vier werden weiter auf der Intensivstation der Neonatologie versorgt. "Die Kinder benötigen viel Aufmerksamkeit und eine intensive Behandlung", so Bührer. Die Gefahr für bleibende Schäden, gefährliche Krankheiten oder Entwicklungsverzögerungen ist weiterhin hoch. Davor hatten Mediziner bereits gewarnt, als die Schwangerschaft von Annegret R. im April bekannt wurde. Insbesondere wegen des Alters der jetzt 17-fachen Mutter hatte der Fall eine kontroverse Debatte über Möglichkeiten und Grenzen der Reproduktionsmedizin ausgelöst.
Für ihren Kinderwunsch war die 65-Jährige nicht nur auf eine Samenzellspende, sondern auch auf die Eizellen einer anderen Frau angewiesen. Weil Eizellspenden in Deutschland verboten sind, hatte sich Annegret R. in der Ukraine Embryos aus Ei- und Samenzellspenden einsetzen lassen. "Schon eine Eizellspende für sich genommen birgt hohe Risiken für Mutter und Kinder. Doch diese Kombination aus Samen- und Eizellspende ist aus medizinischer Sicht nicht nachvollziehbar", kritisiert Professor Frank Louwen, Leiter der Geburtshilfe und Pränatal-Medizin der Universitätsklinik Frankfurt, im DW-Interview. Es sei unverantwortlich, eine Frau in diesem Alter einer solchen Therapie auszusetzen.
Medizinethiker: Altersabstand zwischen Mutter und Kind zu groß
Professor Giovanni Maio, Leiter des Instituts für Ethik und Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, bewertet eine Eizellen- und Samenspende aus einem weiteren Grund kritisch. Denn damit mute man dem Kind zu, "in eine genetisch fremde Umgebung hineingeboren zu werden". "Die Identitätsprobleme, die daraus erwachsen, sind zwar durch psychologische Unterstützung zu bewältigen. Es stellt sich aber die Frage, ob man einem Menschen derartige Probleme zumuten soll", gab Maio im Gespräch mit der DW zu bedenken.
Auch die späte Mutterschaft hält Maio ethisch für verwerflich, allerdings nicht weil sie mit hohen Risiken einhergeht. "Diese Argumentationsstruktur halte ich nicht für tiefsinnig. Das Risiko selbst kann kein Grund sein, eine Technik per se nicht legalisieren zu wollen", sagte der Experte für Bioethik. Vielmehr sollte das Wohl des Kindes in den Fokus der Betrachtung gestellt werden. "Das ist der zentrale Punkt. Es geht um den Altersabstand zur Mutter, den wir dem Kind zumuten. Und das Überspringen einer Generation, das ist etwas, das man dem Kind nicht zumuten sollte. Selbst wenn alle medizinischen Risiken gebannt wären, bliebe diese Grundproblematik."
"Es geht grundsätzlich immer um die Perspektive des Kindes"
Annegret R. hatte ihre erneute Schwangerschaft und die Entscheidung für die künstliche Befruchtung ausdrücklich verteidigt: "Ich bin der Meinung, dass jeder sein Leben so leben sollte, wie er möchte. Da es diese Möglichkeit gibt und sie auch von Tausenden Menschen genutzt wird, darf man die auch nutzen." Eine Argumentation, die Maio als "Ausdruck von Selbstbezogenheit" scharf kritisiert. "Ich finde, wenn es um Fortpflanzung geht, ist das immer ein Beziehungsgeschehen, in dem es unweigerlich um einen Dritten geht. Das heißt, es geht grundsätzlich immer um die Perspektive des Kindes", sagt der Mediziner.
Die Charité-Ärzte wollten die Umstände der Vierlingsgeburt nicht bewerten. Professor Wolfgang Henrich, Direktor der Charité-Klinik für Geburtsmedizin, appellierte jedoch an Reproduktionsmediziner, künftig Mehrlingsschwangerschaften wie diese zu vermeiden. Er forderte "eine gesellschaftliche Diskussion mit dem unbedingten Ziel, Frauen das Kinderkriegen in einer früheren Lebensphase zu erleichtern". Eine Forderung, die auch Maio vom Freiburger Institut für Ethik und Geschichte unterstützt: "Die gesellschaftlichen Rahmbedingungen sollten der Biologie angepasst werden und nicht umgekehrt."
Wer übernimmt die Kosten?
Ungeklärt ist noch die Bezahlung für den ärztlichen Großeinsatz. "Ich bin gespannt, wie sich die Krankenkasse gegenüber der Frau verhalten wird", sagte Henrich. Bei Schwangerschaften ultraspäter Mütter mit nur einem Kind, wie sie an der Charité schon mehrfach vorkamen, habe es bislang keine Probleme mit der Kostenerstattung gegeben. Die Mehrlingsgeburt von Annegret R. ist jedoch ein Sonderfall, weil weder Eizellspenden noch das Einsetzen von mehr als drei befruchteten Embryonen, wie bei der 65-Jährigen geschehen, in Deutschland gesetzlich erlaubt sind.
Für die Mediziner der Charité steht jetzt aber nur "das Wohl der Kinder im Mittelpunkt", wie Neonatologe Bührer betonte. "Sie brauchen jetzt unsere Hilfe." Bis zum eigentlich berechneten Geburtstermin werden die zu früh Geborenen voraussichtlich noch in der Klinik bleiben müssen. Allerdings bekommen sie bereits Muttermilch - tröpfchenweise und per Magensonde. "Erstaunlicherweise funktionierte das bei der Mutter ganz ohne Hormongabe. Jetzt pumpt sie ab", erzählte Spezialist Henrich. Annegret R. habe Schwangerschaft und Geburt erstaunlich gut bewältigt. Dennoch wurde sie nach der Entbindung zwei Tage auf der Intensivstation überwacht. "Sie hat sich exzellent erholt und ist heute mehrmals täglich bei ihren Kindern", berichtete der Direktor der Geburtsmedizin.