Verzweifelte Flucht vor Boko Haram
29. Oktober 2014Ein Hilferuf in Todesangst: "Lass uns besser in Richtung Maiha Sadiq rennen! Bitte nimm nicht diesen Weg hier, Du hast doch die Schüsse gehört", schreit ein Anwohner der Stadt Uba in sein Telefon. Am anderen Ende der Leitung: Ein Reporter des DW Haussa-Programms, der das Gespräch mitschneidet. "Was sollen wir denn nur tun? Lass uns um unser Leben rennen", so der Augenzeuge weiter, völlig außer Atem. "Gestern nach dem Abendgebet um 18:15 Uhr konnten wir Soldaten beobachten, die rannten und etwas warfen, das aussah wie eine Rakete. Während sie flohen haben sie unaufhörlich geschossen", berichtet ein weiterer Augenzeuge. "Es war alles so chaotisch, daraufhin begannen die Menschen zu fliehen. Auch wir wollten fliehen, aber wussten nicht wie und wohin."
Die Stadt Uba liegt nahe der Universitätsstadt Mubi im Bundesstaat Adamawa, im Osten Nigerias. Auch hier seien Boko-Haram-Kämpfer am Mittwoch (29.10.2014) einmarschiert, berichten Augenzeugen. Schon vor Wochen waren die Menschen aus Mubi, der zweitgrößten Stadt Adamawas, aus Angst vor Boko Haram geflohen. Das Militär konnte die Terroristen stoppen und viele Einwohner kehrten zurück. Doch jetzt berichten sie über den Nachrichtendienst Twitter wieder von heftigen Kämpfen und Bombenabwürfen durch die Armee. Doch inzwischen würden auch die Sicherheitskräfte zu Hunderten aus Mubi fliehen.
Boko Haram greift eine Stadt nach der anderen an
Die Stadt Michika rund 60 Kilometer nördlich von Mubi hatten die Terroristen schon Anfang September überrannt. Seitdem hatte das Militär mehrfach versucht, den Ort zurückzuerobern. Tausende Einwohner sind seitdem auf der Flucht. Bis heute haben sie keine sichere Bleibe gefunden. Im Gespräch mit einem DW-Korrespondenten berichtete eine Frau, sie und andere seien in der Nacht geflohen und hätten erst nach fünf Stunden die nächste Stadt erreicht. "Viele unserer Kinder sind unterwegs an Erbrechen und Durchfall gestorben, weil wir Wasser aus den Flüssen trinken mussten, um zu überleben." Vandi Favanza, Chef der Gemeindeverwaltung in Michika, sagte, viele Bewohner hielten sich bereits seit über 40 Tagen in den Bergen versteckt. "Sie finden nicht genug zu Essen, und haben auch keine medizinische Versorgung", sagte Favanza der DW. "Ich flehe die nigerianische Regierung an, aber auch die internationale Gemeinschaft, uns in dieser Situation zu helfen!"
Die Berggipfel werden zur Falle
Auch weiter nördlich, im Ndololo-Tal im Bundesstaat Borno seien mehr als 1000 Menschen von Angriffen der Terrorgruppe Boko Haram bedroht, sagte Gerhard Müller-Kosack in einem Interview mit der DW. Der in England lebende Ethnologe ist seit 20 Jahren in der Region tätig und beobachtet die jüngsten Ereignisse mit großer Sorge. "Nach Ndololo, dem höchst gelegenen Tal des Gwoza-Gebirges, haben sich vor allem Christen zurückgezogen vor den Attacken von Boko Haram. Sie haben zwar Wasser, aber nicht genug zu essen." Boko Haram versuche jetzt, dorthin vorzudringen, so Müller-Kosack. "Manche haben es geschafft zu fliehen, andere sind getötet worden." Ndololo liegt auf etwa 1300 Meter Höhe im Grenzgebiet zwischen Nigeria und Kamerun. Die Menschen waren vor Monaten in die schwer zugängliche Region geflohen, nachdem die Terrorgruppe Boko Haram im August 2014 in der nahe gelegenen Stadt Gwoza ein "islamisches Kalifat" ausgerufen und den Bundesstaat Borno unter ihre Kontrolle gebracht hatte.
Genaue Opferzahlen: unbekannt
Wie viele Opfer die jüngsten Angriffe von Boko Haram in Ndololo gefordert haben, könne er nicht mit Sicherheit beantworten, sagt Müller-Kosack. Aber in seinen täglichen Gesprächen mit Kollegen und Freunden aus der Region, zähle er "in dieser bestimmten Region Hunderte." Eine Quelle hätte Müller-Kosack gegenüber von bis zu 3000 Flüchtlingen gesprochen.
Gefragt nach der Situation der Flüchtlinge in Ndololo reagierte der Sprecher der nigerianischen Regierung, Mike Omeri, bestürzt: "Davon weiß ich nichts. Aber ich bin sehr froh, dass sie mich auf die Situation aufmerksam machen. Ich werde unsere Leute benachrichtigen, damit sie sicherstellen, dass die Menschen in der Region beschützt werden." Er werde die Information an die entsprechenden Sicherheitsorgane weiterleiten, sagte Omeri. Zudem werde er umgehend die Nigerianische Notfall-Agentur (NEMA) über die Nahrungsmittelknappheit in der Region informieren, damit die Menschen dort unverzüglich Hilfe erhielten. Gleichzeitig bat Omeri alle Nigerianer um Geduld, "die Regierung arbeitet daran, Frieden in der Region herzustellen".
Über 20.000 Flüchtlinge in Kamerun
Hussaini Monguno, Sprecher der Nichtregierungsorganisation Yobe-Borno-People's-Forum, bestätigte Berichte von unzähligen Flüchtlingen auf kamerunischer Seite. "Wir haben Klagen über katastrophale Zustände erhalten. Die Versorgung in Kamerun reicht nicht". Monguno weiß von etwa 20.000 Flüchtlingen. Er habe den Gouverneur des Bundesstaates Borno kontaktiert, der versprochen habe, Fahrzeuge und Sicherheitspersonal in die Region zu entsenden, um die Menschen in die Stadt Maiduguri zu holen. Doch die Situation sei äußerst unbefriedigend, so Monguno weiter: "Die Attacken von Boko Haram erreichen eine Stadt nach der anderen. An einem Tag haben wir 200 Flüchtlinge in einem Lager. Am darauffolgenden Tag greift Boko Haram die nächste Stadt an und alle unsere Maßnahmen reichen nicht mehr. Die Situation ist längst außer Kontrolle geraten."
Militär und Regierung: machtlos
Dass die Armee in Ndololo eingreifen werde, hält Müller-Kosack für abwegig. "Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die nigerianische Armee den Menschen dort helfen wird. Denn sie haben auch erfolglos versucht, Gwoza einzunehmen." Bisher sei es der Armee nicht gelungen, die Gebiete in der Bergregion zurückzuerobern.