Vernachlässigte Tropenkrankheiten: weltweit schwere Folgen
30. Januar 20231. Was sind vernachlässigte Tropenkrankheiten?
Die Weltgesundheitsorganisation rechnet derzeit 20 Krankheiten zu den sogenannten vernachlässigten Tropenkrankheiten, (englisch: neglected tropical diseases) kurz NTDs genannt. Ein Käferbiss, der Stich einer Sandfliege oder winzige Parasiten, die beim Planschen am See in die Haut eindringen - so einfach ist die Übertragung.
Unbehandelt können solche Erkrankungen zu dauerhaften Einschränkungen führen, zu körperlichen Behinderungen oder zum Tod. Bei der in vielen Weltregionen vorkommenden Trachom-Infektion etwa droht Erblindung, die lymphatrische Filariose (Elephantiasis) lässt Gliedmaßen dauerhaft anschwellen, andere Erreger greifen innere Organe wie Nieren oder Leber an, oder zerstören Nervenzellen und verursachen massive Herzschäden, wie die vor allem in Südamerika übertragene Chagas-Krankheit. Millionen Menschen besonders in tropischen Ländern infizieren sich jährlich mit NTDs.
Fünf Erreger ("the big five") lösen etwa 90 Prozent aller NTD-Erkrankungen aus: Lymphatische Filariose (Elephantiasis), Flussblindheit (Onchozerkose), Trachom, Bilharziose (Schistosomiasis) und der Befall mit Geohelminthen.
Besonders betroffen ist der ärmste Teil der Bevölkerung in Afrika, Asien und Lateinamerika. Obwohl NTDs weit verbreitet sind, wird ihre medizinische Versorgung oft immer noch vernachlässigt. Das hat schwerwiegende Folgen für die Lebensqualität der Erkrankten - und beeinträchtigt sie auch ökonomisch.
2. Wer ist weltweit von NTDs betroffen?
1,7 Milliarden Menschen in 149 Ländern sind von den NTDs betroffen; weitere zwei Milliarden Menschen sind von ihnen bedroht,so das Deutsche Netzwerk gegen Vernachlässigte Tropenkrankheiten DNTDs. Laut Schätzungen sterben jährlich eine halbe Million Menschen direkt oder indirekt an NTDs.
NTDs kommen in allen tropischen Regionen auf der Erde vor, von Südostasien über den Nahen Osten, Afrika und Südamerika. "Am stärksten betroffen sind afrikanische Länder", erklärt Jürgen May im DW Interview. Er leitet das Bernhard Nocht Institut für Tropenmedizin in Hamburg, wo globale Infektionen erforscht werden.
Vor allem einkommensarme Menschen sind gefährdet, besonders auf dem Land und in Gebieten, die für medizinische Versorgung schwer zu erreichen sind. Dort fehlt oft auch ausreichender Zugang zu sauberem Wasser und Nahrung. "Es gibt einen Teufelskreis von Krankheiten und Armut in vielen Ländern. Die Krankheiten selber führen zu mehr Armut. Und die Hygiene-Probleme, die mit der Armut einhergehen führen zu weiteren Erkrankungen", so May.
Wer dauerhaft krank ist, kann oft nicht mehr arbeiten und die Familie versorgen. Und die durch NTDs verursachten Behinderungen können zu weiterer Stigmatisierung und Ausgrenzung führen. Für Frauen und Kinder sind die Krankheiten oft am schlimmsten. Viele Kinder können nicht zur Schule gehen oder haben Entwicklungsstörungen, und bisher gibt es für viele NTDs keine kindgerechten Medikamente.
3. Warum sind NTD-Krankheiten 'vernachlässigt'?
Obwohl weltweit Milliarden Menschen von NTDs bedroht sind, ist die Bekämpfung noch immer unterfinanziert und nicht ausreichend im Fokus von Gesundheitssystemen, mahnen Hilfsorganisationen wie die Nichtregierungsorganisation CBM, die sich weltweit für Menschen mit Behinderungen einsetzt.
Der Begriff "Vernachlässigte Krankheiten" zeige auch "wie schwierig es ist, für die NTDs Aufmerksamkeit zu schaffen, ebenso wie für die vernachlässigten Bevölkerungsgruppen, die am meisten darunter leiden", erklärt der Infektiologe May. Menschen in ländlichen Gebieten, ebenso wie Bewohner von Armenvierteln in den Städten, werden von politischen Entscheidern oft nicht priorisiert. "Es ist vielen nicht bewusst, dass diese Krankheiten schwerwiegend und chronisch sind."
Die COVID-Pandemie habe in vielen afrikanischen Ländern zu großen Rückschritten in der NTD Bekämpfung geführt, weil Millionen von Medikamentendosen nicht mehr bei den Betroffenen verteilt werden konnten. "In den letzten zwei, drei Jahren sind wir teils um 15 Jahre zurückgefallen", sagt May. Dabei seien in vielen tropischen Ländern die Folgen von Corona-Infektionen lange nicht so schlimm gewesen wie die Folgen von NTD-Erkrankungen.
4. Breiten sich tropische Krankheiten durch den Klimawandel weiter aus?
NTDs sind vor allem in tropischen Regionen verbreitet, doch durch den Klimawandel und globale Reisen gibt es auch immer mehr Fälle in Europa und Nordamerika.
Das von Moskitos übertragene Dengue-Fieber etwa kommt nicht nur in Afrika, Südostasien und Südamerika vor, es hat inzwischen auch den Mittelmeerraum und Südeuropa erreicht, so May.
Auch in afrikanischen Ländern, wo die Krankheiten früher meist die ländliche Bevölkerung traf, sind inzwischen weitere Gebiete gefährdet. Ansteigende Temperaturen haben auch Auswirkungen auf Insekten, die Erreger übertragen. "Moskitos findet man inzwischen in immer höherliegenden Regionen, bis auf 1500 oder 1800 m Höhe, und auch in großen afrikanischen Städten, wo sie früher nicht vorkamen, wie etwa Nairobi, Addis Abeba oder Antananarivo in Madagaskar. "
Auch in Nordamerika und Mitteleuropa gibt es immer mehr Fälle tropischer Krankheiten. Das West-Nil-Virus, (strenggenommen keine NTD, aber ähnlich übertragbar wie Chikungunya oder Dengue), werde seit 2018 regelmäßig auch in Deutschland gefunden, erklärt May. Und "durch ein einziges Moskito, das 1999 in New York eingeschleppt wurde, hat sich das West-Nil-Virus inzwischen über die gesamte USA ausgebreitet."
Die Sandfliege, die die Leishmaniose überträgt, ist längst auch in touristischen Regionen und Urlauberinseln im Mittelmeerraum heimisch. Was anfangs aussieht wie ein Hautausschlag, aber tödlich enden kann, ist jedoch für europäische Hausärzte kaum zu identifizieren. Denn NTDs spielen in der Medizinerausbildung dort keine Rolle, so May. Immer mehr Institute für Tropenmedizin wie das Bernhard Nocht Institut in Hamburg bieten daher Fortbildungskurse für Ärzte an.
5. Wie geht es weiter mit der NTD-Bekämpfung?
Bis 2030 will die Weltgesundheitsorganisation durch internationale Zusammenarbeit von Hilfsorganisationen, Medizinern, Regierungen und der Pharmaindustrie die vernachlässigten Tropenkrankheiten weltweit weitgehend eindämmen.
"Das ist ein ambitioniertes Ziel", sagt May. Für einige der Krankheiten sei es sicher möglich, bei anderen sei es extrem schwierig. Angesichts der derzeit vielen gleichzeitigen Krisen befürchten viele Expertinnen und Experten, dass die Bekämpfung der NTDs an Bedeutung verlieren könnte.
Doch die bisherigen Erfolge machten auch Hoffnung, findet May.
So haben jahrzehntelange Anstrengungen dazu geführt, dass in 43 Ländern schon mindestens eine der NTDs besiegt ist und über 600 Millionen Menschen inzwischen keine Medikamente mehr brauchen. Krankheiten wie Flussblindheit und Erblindung wegen Trachoma-Infektionen sind dank verbesserter Gesundheits-Aufklärung und gezielter Versorgung mit Medikamenten sehr viel seltener geworden.
Und die früher weit verbreitete tödliche Schlafkrankheit ist fast komplett besiegt. "Über viele Jahre konnten wir die Schlafkrankheit nur mit Infusionen behandeln, mit vielen schweren Nebenwirkungen. Seit ein paar Jahren gibt es ein Medikament zum Einnehmen, das war ein Wendepunkt. Im Jahr 2020 hatten wir nur noch 650 Patienten."
Um gute Diagnostik, Medikamente und teils auch Impfungen zu entwickeln, brauche es jedoch mehr Ressourcen und noch mehr Engagement von Regierungen überall auf der Welt. Die Bundesregierung etwa trat vor einem Jahr der Kigali-Deklaration zur weltweiten Bekämpfung von NTDs bei. Nun fordern Hilfsorganisationen und Gesundheitsexperten auch finanzielle Konsequenzen und mehr Geld für NTD-Programme.