Wenn der Platz am Himmel eng wird
5. Oktober 2018Das Wachstum im europäischen Luftverkehr ist so stark, dass die Branche immer häufiger an die Grenze dessen gerät, was sie leisten kann. Und zwar an "allen Fronten": Die Abfertigung von Gepäck und Passagieren stockt, es kommt zu oft unzumutbaren Wartezeiten bei Ein- oder Ausreise und vor allem bei der Sicherheitskontrolle. Die Flugsicherung ist vom Verkehrsaufkommen überfordert, die Fluggesellschaften können die stetig steigende Nachfrage der Kundschaft kaum noch befriedigen.
Am ehesten machen Flugausfälle oder Verspätungen Schlagzeilen, wenn es um Streiks wie bei Ryanair geht oder wenn Fluggesellschaften wie Air Berlin bankrott gehen. Doch die folgenden Zahlen spiegeln keine Ausnahmezustände wider, sondern den Alltag im überdehnten Flugverkehr in Deutschland und Europa.
Die Zahlen des Schreckens
Die Internationale Luftverkehrsorganisation IATA hat errechnet, dass es in der ersten Hälfte dieses Jahres täglich 47.000 Minuten Verspätung im europäischen Flugverkehr gibt - das ist mehr als doppelt so viel wie im Vorjahreszeitraum.
Dazu hat das Internetportal EUClaim, das für Fluggastrechte streitet, festgestellt, dass im gleichen Zeitraum mehr als 15.500 Flüge von und nach Deutschland sowie innerhalb des Landes abgesagt worden sind. Im Jahr zuvor waren es nur wenig mehr als die Hälfte, nämlich 8.800.
Laut derselben Quelle gab es 3778 Flüge, die mehr als drei Stunden verspätet waren, nach 2268 im ersten Halbjahr 2017. Der Eindruck mancher Reisender, dass im Flugverkehr über Europa und insbesondere Deutschland Chaos herrsche, ist also auch durch Zahlen belegt.
Dünn ausgestattete Airlines
Verantwortlich für den Zustand sind beinahe alle Beteiligten. Die Fluggesellschaften etwa, die durch den harten Preiskampf unter enormem Kostendruck stehen, geraten durch den Einsatz von immer mehr Personal und Maschinen an ihre Kapazitätsgrenzen. Das Ergebnis: Die Flugpläne werden dichter, die Reserven dünner.
Dazu kommt, dass den Fluggesellschaften oft nicht genügend Maschinen zur Verfügung stehen. Das "Handelsblatt" zitiert Oliver Wagner, Mitglied des Executive Board von Eurowings, der "einen Mangel an Jets, gebrauchten Flugzeugen und Ersatzteilen" beklagt.
Ganz düstere Aussichten
Auch bei der Flugsicherung hakt es: Personelle Engpässe bei den Fluglotsen führen zunehmend zu Verspätungen. Wenn ein Flugzeug einen Slot (das ist die geplante Abflugzeit) verpasst, führt das zu immer größer werdenden Verspätungen bei darauf folgenden Einsätzen dieser Maschine. Die Europäische Flugsicherung Eurocontrol warnt, dass es in Zukunft zu noch mehr Verspätungen kommen wird. Bis 2040 erwartet sie unter den heutigen Bedingungen eine Zunahme der Verspätungen um das Siebenfache.
In der Flugsicherung herrschten Personalengpässe sowie Beschränkungen durch zu wenig europäische Kooperation und in der Folge gebe es auch zu wenig Fluglotsen, erklärt Matthias von Randow, Geschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL).
Es gibt zu viele Himmel in Europa
"Unsere Branche musste erkennen, dass auch der Himmel Grenzen hat." Was je nach Standpunkt entweder ein Paradox oder eine Binsenweisheit ist, klingt aus dem Munde eines Luftfahrtfunktionärs wie Klaus-Dieter Scheurle beinahe wie ein Hilferuf. Scheurle ist Chef der Deutschen Flugsicherung (DFS) und Präsident des BDL.
Die Grenzen am Himmel über Europa kann man sogar zählen: Es sind die Nationalstaatsgrenzen der Mitgliedsstaaten der EU. Seit den neunziger Jahren gibt es Bestrebungen, den Himmel zu einen und einen Single European Sky (SES) zu implementieren. Bislang erfolglos: Es gibt weiterhin 27 verschiedene Flugsicherungssysteme in Europa.
Viele sehr dicke Bretter
Zu wenig Personal am Boden und in der Luft, zu wenig fliegendes Material, ein stark fragmentierter Himmel, mangelnde europäische Zusammenarbeit bei der Flugsicherung auf der einen Seite und eine ständige steigende Nachfrage nach - möglichst billigen - Flügen auf der anderen Seite: Die bereits bestehenden Probleme im europäischen Luftverkehr werden noch deutlich schlimmer werden.
Die Verkehrsminister von Bund und Ländern und die deutschen Branchenvertreter von Fluggesellschaften, Flughäfen und Flugsicherung werden viele dicke Bretter bohren müssen, wenn sie sich am Freitag zum Hamburger "Luftfahrtgipfel" treffen. Unter einem Mangel an Gesprächsthemen werden sie jedenfalls nicht leiden.