"Zeit für eine Debatte"
23. September 2013Zwischen Juni 2008 und August 2009 verübte eine Gruppe rechtsextremer Ungarn insgesamt zehn Anschläge, bei denen sechs Roma ermordet wurden, darunter ein vierjähriger Junge. Bei den Anschlägen wurden 55 Menschen, ebenfalls fast alle Roma, zum Teil lebensgefährlich verletzt. Im August 2009 wurden vier Täter gefasst und am 6. August 2013 zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, da die Angeklagten Berufung eingelegt haben. Im Prozess stellte sich heraus, dass ungarische Behörden und Geheimdienste bei den Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Mörder massiv geschlampt und Fehler vertuscht hatten. Inzwischen wird in der Roma-Mordserie neu ermittelt, weil die Behörden davon ausgehen, dass es mindestens noch einen weiteren, möglicherweise sogar mehrere weitere Mittäter gibt.
DW: Unter dem Titel "Ihr Verbrechen war ihre Hautfarbe" haben Sie vier kurze Filme über die Roma-Morde in den Jahren 2008/2009 produziert und Anfang August veröffentlicht. Worum geht es bei diesem Projekt genau?
Szilvia Varró: In den Filmen erzählen vier bekannte ungarische Schauspieler und Schauspielerinnen die Geschichte der Roma-Morde. Die Texte dazu hat der Dokumentarfilmer András B. Vágvölgyi auf der Basis der Anklageschriften gegen die mutmaßlichen Mörder geschrieben. Er ist auch einer der gründlichsten Prozessbeobachter gewesen. Es ging darum, mit diesen Filmen Aufmerksamkeit in der ungarischen Öffentlichkeit zu erregen. Sie hat sich für die Roma-Morde nur wenig interessiert. Dabei müsste doch die Welt stillstehen, wenn ein kleiner Junge aus rassistischen Motiven erschossen wird, so wie es in Tatárszentgyörgy im Februar 2009 geschehen ist.
Welche Resonanz gab es seitens der Zuschauer?
Wie immer waren die Rechtsextremen diejenigen, die am schnellsten reagiert haben - natürlich ablehnend. Der Erfolg der ungarischen Rechtsextremen beruht ja größtenteils auf deren Antiziganismus. Mein eigentliches Ziel war es, die Mordserie in die Boulevardmedien hineinzutragen, und das ist gelungen. Viele so genannte "einfache" Zuschauer waren berührt von den sehr emotional erzählten Geschichten. Dazu bedurfte es natürlich jener populären Schauspieler. Bisher haben mehr als 1,2 Millionen Menschen in Ungarn und im Ausland unsere Filme gesehen.
Wie steht die ungarische Gesellschaft zu der Roma-Mordserie?
Mein Grunderlebnis in Zusammenhang mit Demokratie und Mitleid hatte ich in München, wo ich nach dem Ende des Kommunismus einige Zeit lebte: 1993 gingen dort Zehntausende auf die Straße, um gegen Fremdenfeindlichkeit zu demonstrieren. Für eine Osteuropäerin - ein paar Jahre nach der Wende - war das eine andere Welt. Es gab in Ungarn keine Auseinandersetzung mit der Roma-Mordserie, so wie wir auch keine tiefer gehenden Debatten über die Verantwortung der Ungarn im Zweiten Weltkrieg oder unter dem Kommunismus hatten. Es waren immer die anderen, die etwas falsch gemacht hatten, nie wir selbst.
Die Orbán-Regierung hat nach dem erstinstanzlichen Urteil gegen die Mörder - sehr spät - angekündigt, die Opfer entschädigen zu wollen. Außerdem sind die Ermittlungen zu den Roma-Morden wieder neu aufgenommen worden, da viele Details ungeklärt sind und staatliche Behörden in die Mordserie verstrickt zu sein scheinen. Sehen Sie das als Erfolg des Drucks, den Bürgerrechtler, Anwälte und Aktivisten wie Sie gemacht haben?
Die jetzige Regierung handelt zwar spät, aber vergessen wir nicht, dass die Mordserie unter der vorherigen sozialistischen Regierung stattfand, dass es ihre Geheimdienste waren, die all die Fehler begangen haben. Dass sie dafür verantwortlich sind, die Täter nicht früher gefasst zu haben, obwohl schon längst Informationen über sie vorlagen. Es ist unfassbar, dass die Sozialisten nie über die Mitverantwortung des ungarischen Staats sprachen.
Als der Film von Bence Fliegauf "Nur der Wind", in dem es um die Roma-Morde geht, im Februar 2012 auf der Berlinale Premiere hatte, ließ die Orbán-Regierung noch Flugblätter an die Zuschauer verteilen. Darin stand, dass der Film eine fiktive Geschichte erzähle, und dass das reale Ungarn nicht so sei wie im Film.
Ja, genau deshalb halte ich die jetzige Ankündigung, die Opfer und Angehörigen der Roma-Morde zu entschädigen und neue Ermittlungen aufzunehmen, nicht bloß für eine leere politische Geste. Es könnte der erste Schritt hin zu einer wirklichen Auseinandersetzung sein.
Sie selbst waren 20 Jahre lang Journalistin und haben für Ihre Recherchen über den Rechtsextremismus in Ungarn unter anderem den ungarischen Pulitzer-Preis, die bedeutendste ungarische Journalisten-Auszeichnung, erhalten. Nach der Roma-Mordserie haben Sie Ihren Beruf aufgegeben. Warum?
Als Journalistin habe ich die Mordserie jahrelang verfolgt. Ich bin an jeden Tatort gefahren und habe mit den Familien gesprochen. Als der vierjährige Robi Csorba und sein Vater erschossen wurden, war das für mich ein Wendepunkt. Ich fand, dass Journalismus einfach nicht der effektivste Weg ist, um gesellschaftlich etwas zu verändern. Ich hatte das Gefühl, dass die journalistischen Normen, die ich immer sehr ernst genommen habe, mich knebeln. Ich habe mich aus dem Journalismus verabschiedet, um in der ungarischen Gesellschaft aktiv etwas zu verändern. Mit journalistischen Mitteln kommt man an Dinge oft nicht heran. Und persönlich habe ich es auch als totalen Misserfolg erlebt, dass es mir nicht gelungen ist, die geheimdienstlichen Verstrickungen der Roma-Mordserie aufzudecken, ich bin einfach gegen Mauern gerannt.
Können sich Morde - wie die von 2008/2009 - noch einmal wiederholen? Oder bleiben sie ein Einzelfall?
Leute voller Hass wird es immer geben. Die Frage ist, wie der Staat, die Behörden und die Menschen im Alltag darauf reagieren. Die Roma haben es in Ungarn sehr sehr schwer. Sie sind zunehmend wehrloser und entrechteter, und die alltägliche Diskriminierung wird sie irgendwann rebellieren lassen. In der Gesellschaft wächst der Antiziganismus, während zugleich Political Correctness die realen Probleme oft nicht löst, sondern nur verdeckt. Es ist an der Zeit, über all das in Ungarn eine breite Debatte zu führen.
Die ungarische Bürgerrechtsaktivistin Szilvia Varró, geboren 1974 in Budapest, ist Gründerin und Leiterin der PR- und Kommunikationsagentur XKK, die in Ungarn öffentliche Kampagnen zu sozialen und politischen Themen führt. Bis 2010 arbeitete Varró als Journalistin, unter anderem bei der linksliberalen Tageszeitung Népszabadság. Sie recherchierte jahrelang in der rechtsextremen Szene Ungarns und wurde für ihre Arbeit vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem ungarischen Pulitzer-Preis.
Das Gespräch führte Keno Verseck.