Roma-Morde in Ungarn
26. August 2013Der Druck von ungarischen Bürgerrechtlern und Anwälten hat offenbar gewirkt: Das "Nationale Ermittlungsamt" (NNI), Ungarns zentrale polizeiliche Ermittlungsbehörde, die vor allem bei Terrorismusverdacht und Straftaten mit Auswirkungen auf die nationale Sicherheit tätig wird, nimmt die Ermittlungen im Fall der Roma-Mordserie von 2008/2009 wieder auf, da ein oder mehrere mutmaßliche Mittäter noch frei herumlaufen.
Rechtsextreme Täter hatten in den Jahren 2008/2009 neun Brand- und Mordanschläge verübt und dabei sechs Roma ermordet. 55 Menschen, ebenfalls fast alle Roma, wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Die mutmaßlichen Mörder wurden im August 2009 gefasst, der Prozess gegen sie begann im Frühjahr 2011. Vor kurzem, Anfang August, wurden die Urteile verkündet: Drei Täter erhielten lebenslange Haftstrafen, ein Komplize 13 Jahre Gefängnis. Alle Verurteilten haben Berufung eingelegt.
Eine Geste für die Opfer
Außerdem ordnete die ungarische Generalstaatsanwaltschaft jetzt Ermittlungen im militärischen Bereich an. Wahrscheinlich wegen der Verstrickung des ungarischen Militärgeheimdienstes in die Roma-Morde. Ungarische Bürgerrechtler, wie der Roma-Aktivist Aladár Horváth, werten diese Ankündigungen als "späte, aber begrüßenswerte Gesten" der Regierung gegenüber den Opfern.
Ungarns Minister für Humanressourcen Zoltán Balog hatte zuvor angekündigt, seine Regierung wolle die Überlebenden der Mordserie und die Angehörigen der Opfer entschädigen, da der ungarische Staat eine Mitverantwortung an der Mordserie trage und seine Behörden bei den Ermittlungen geschlampt hätten. Balog erhebt damit schwere Vorwürfe gegen die damals amtierende sozialistisch-liberale Regierung. Die Angelegenheit ist insofern bemerkenswert, da es das erste Mal ist, dass ein Minister die Mitverantwortung des ungarischen Staats eingesteht und daraus auch eine moralische Entschädigungspflicht ableitet.
Ermittlungspannen der Polizei
Bereits während und kurz nach dem Ende der Mordserie stellte sich heraus, dass die ungarische Regierung zahlreiche skandalöse Ermittlungspannen zu verantworten hat. So wurden die Ermittlungen erst an einem Ort zusammengebracht, als bereits vier Roma ermordet worden waren, darunter ein vierjähriger Junge. Monatelang war ein rechtsterroristischer Tathintergrund nicht ernsthaft in Erwägung gezogen worden, die Polizei hatte Spuren an Tatorten teilweise mutwillig verwischt. Dazu ergaben die DNA-Analysen, dass es neben den verhafteten vier Tätern weitere mutmaßliche Mittäter gab. Sie laufen bis heute frei herum. Außerdem lassen Ermittlungsergebnisse auf zahlreiche Unterstützer und Mitwisser schließen.
Doch damit nicht genug: Der ungarische Inlandsgeheimdienst hatte die Überwachung zweier späterer Täter erst kurz vor Beginn der Mordserie eingestellt. Ungeklärt ist die Frage, wieviel der Inlandsgeheimdienst später über die Täter wusste und ob Erkenntnisse bewusst nicht an die Ermittler weitergegeben wurden. Der Militärgeheimdienst wiederum hatte durch einen Führungsoffizier noch während der Mordserie zu einem Tatkomplizen Kontakt. Erst vor kurzem kam heraus, dass dieser Führungsoffizier im Prozess gegen die Mörder von seinen Vorgesetzten zur Falschaussage angestiftet worden war.
Ein offener Brief erweichte wohl Orban
Der liberale Politiker József Gulyás, der 2009/2010 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu der Mordserie mitgeleitet hatte, begrüßt die Neuaufnahme der Ermittlungen und hofft, dass "die Schlampereien der Behördern endlich aufgeklärt werden". Gulyás bewertet auch das Versprechen, die Opfer zu entschädigen als "sehr schätzenswerte Geste", da es "in Ungarn nicht populär" sei, Opfer aus den Reihen der Roma zu unterstützen.
Die Entschädigungsankündigung der ungarischen Regierung kommt, nachdem Bürgerrechtler und Anwälte der Überlebenden und Angehörigen in den letzten Monaten immer wieder auf deren elende Lebensbedingungen hingewiesen haben. So hatte unter anderem der Anwalt László Helmeczy, der im Prozess die Witwe des im April 2009 ermordeten Jenö Kóka vertritt, einen berührenden offenen Brief an den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán gerichtet. Helmeczy schilderte darin die elenden Lebensbedingungen einiger überlebender Opfer der Roma-Mordserie und forderte Orbán auf, sich schnell für bessere Entschädigungsregelungen einzusetzen.
"Dass die Opfer nun entschädigt werden sollen, scheint mir eine ehrliche Geste der Regierung zu sein", sagt der Roma-Aktivist Aladár Horváth. "Angesichts der Wahlen im nächsten Jahr könnte es auch ein klares Signal sein, dass diese Regierung sich von der Diskriminierung der Roma durch die Rechtsextremen abgrenzt."